„Wir sind ein Inkubator für neue Fragestellungen“
Open Innovation in Science (OIS) CenterDas Open Innovation in Science Center der Ludwig Boltzmann Gesellschaft feiert bald sein zehnjähriges Jubiläum. Leiter Georg Russegger spricht über die Meilensteine und Vorhaben für die kommenden zehn Jahre in der offenen Innovationsfindung. Das Interview führte Eva Stanzl.
Eva Stanzl: Das Open Innovation in Science Center (LBG OIS Center) der Ludwig Boltzmann Gesellschaft unterstützt Innovation unter Einbindung von Bürger:innen und Interessengruppen durch Beratung, Förderung, Materialien, Infrastruktur, Weiterbildung und Vernetzung. Welche Personen reden mit?
Georg Russegger: Die Einbindung von Bürger:innen in den Innovations- und Forschungsprozess liegt in der Tradition des OIS Centers. Jede Interessengruppe hat eigene Themenstellungen – etwa, wenn es im Gesundheitswesen eine schlechte Primärversorgung gibt, oder eine andere, wenn eine Erkrankung zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Diese Gruppen tun sich zusammen und können zu uns kommen, weil wir Wissenschaft für die Gesellschaft betreiben und zu einer Anlaufstelle für solche Anliegen geworden sind. Wir designen Prozesse für die Wissenschaft unter Einbindung nichtwissenschaftlicher Vertreter:innen und versuchen, durch die Einbindung von Betroffenen oder Expert:innen zu treffsicheren Lösungen zu kommen. Das erste Projekt dieser Art war 2015 „Reden Sie mit!“, in dem es darum ging, psychisch Erkrankte einzubinden, um zu besseren Forschungsfragen und Behandlungsmethoden zu gelangen. Man stellt den Forschungsprozess auf den Kopf und fragt zuerst nach, um dann zu schauen, was man damit machen kann.
Sie haben im Mai 2024 die Leitung des LBG OIS Centers angetreten. Ihre Bilanz der ersten Monate?
Die Gesamtorganisation der LBG und des OIS Centers wurde auf neue Beine gestellt und ich hatte eine Liste an Veränderungen umzusetzen. Das löst viele Gefühle aus, und es ging zunächst darum, Beziehungen aufzubauen. In unseren fünfzehn Instituten gibt es viele Forschende, die von Open Innovation in Science profitieren. Ich wollte eine innovationsfreundliche Umgebung gestalten, auch durch klare Formulierungen, wofür wir als Innovationsabteilung der LBG stehen. Das ist gelungen, auch im Team: Wir haben eine wertschätzende Arbeitsumgebung und eine Service- und Innovationskultur geschaffen. Wissenschaft und Implementierung wurden zusammengeführt; die Praxis muss in die Wissenschaften und vice versa.
Wie finden die Ergebnisse eines offenen Innovationsprozesses ihren Weg in die Wissenschaft?
Uns interessiert im LBG OIS Center, was andere denken und wie wir dieses Denken in Innovationsprozesse überführen können. Unsere Services sind maßgeschneidert für Ludwig Boltzmann Institute, aber auch für die Gesellschaft. Jemand kommt mit einem Problem, und wir hören zu, um herauszufinden, wie wir helfen können. Dann wird analysiert, worum es wirklich geht, und erst dann können wir versuchen, gemeinschaftlich neue Wege zu finden, um Lösungen zu gestalten. Wir sind also das Gegenteil eines One-Stop-Shops mit vorgefertigten Rezepten.
Heute hat das LBG OIS Center eine große thematische Vielfalt. Wie genau arbeiten Sie?
Wir sind heute ein Team von zwölf Personen mit verschiedenen Aufgabenbereichen. Wir arbeiten in beide Richtungen – sowohl in der Aufklärung darüber, was Wissenschaft und Kunst können und leisten, als auch im Aufbau von Verständnis für die vielen neuen Dinge, die auf uns zukommen. Nehmen wir etwa die Frage, wie wir künstliche Intelligenz (KI) und Telemedizin zur Anwendung bringen können und was Personen brauchen, um sie gut nutzen zu können. Welche Bildung, welche Geräte, welche Unterstützung und welche Subventionen braucht zum Beispiel ein Arzt oder eine Ärztin im ländlichen Raum, um telemedial arbeiten zu können?
Was sagt der Arzt oder die Ärztin dazu?
Wir wissen, dass die Versorgungslage im städtischen und im ländlichen Raum sehr unterschiedlich ist. Vor allem Junge ziehen in die Stadt, und wir sehen eine Ausdünnung der Nahversorgung auf dem Land. Warum ist das so? Dazu wollen wir abgestimmt mit europäischen Netzwerken und gemeinsam mit Betroffenen innovative Zukunftskonzepte für ländliche Regionen entwickeln.
Wie darf man sich den gemeinschaftlichen Prozess vorstellen?
Wir bringen Verantwortliche zusammen, etwa im Rahmen von Veranstaltungen vor Ort oder in Wien, die von Vereinen oder Interessenvertreter:innen organisiert werden. Eines unserer neuesten Projekte, das wir mit Unterstützung der Nationalstiftung (Fonds Zukunft Österreich) durchgeführt haben, sind die Impact Labs – zu Deutsch Wirkungslaboratorien –, die sich zum Beispiel damit befassen, was Pflegende am Land und 24-Stunden-Pflegepersonal tun, um die Lebensqualität von Patient:innen zu verbessern.
Der Bürgermeister der Gemeinde Eisgarn im Waldviertel etwa kam mit dem Anliegen, eine Modellregion zur Telemedizin mit Community Nurses zu schaffen. Ich habe mich mit karitativen Vereinigungen und Vertreter:innen aus dem Gesundheitswesen, die das Thema Alzheimer behandeln, abgestimmt, und wir erkunden nun in einem gemeinsamen Projekt, was diese Patient:innen auf nichtmedikamentöser Ebene brauchen. Es geht um die Einbindung der Betroffenen, um die Erhöhung der Lebensqualität von Alzheimer-Erkrankten, deren Angehörigen, Pfleger:innen und allen, die im System teilhaben.
Wissenschaften werden also praxisnah gelebt. Wie könnte dieser Zugang dabei helfen, Wissenschaftsskepsis abzubauen?
Dieser Zugang ist der Schlüssel. Wissenschaftskommunikation versucht, Wissenschaft zu erklären. Aber Wissenstransfer ist ein Austausch über die Wissenschaften. Er bindet Personen ein und ermöglicht Identifikationen, wodurch man konstruktiv über Dinge sprechen kann, weil man eine Stimme hat, die gehört wird. Uns geht es vorrangig darum, ein allgemeines Verständnis für wissenschaftliche Themen zu entwickeln, und dafür, was es überhaupt in den Wissenschaften gibt.
Ein Teil der österreichischen Bevölkerung hat eine negative Einstellung zur Wissenschaft. Kann ein offener Austausch etwas daran ändern?
Man muss unterscheiden zwischen Menschen, die nichts über Wissenschaft wissen, aber gerne mehr erfahren würden, und Menschen, die nichts davon hören wollen. Aus der Perspektive der Open Innovation in Science interessieren mich Wirkungslogiken und Wirkungsverläufe. Eine Auswirkung unserer Zeit ist zum Beispiel der sogenannte KI-Gap: Viele Technologien und unzählige Anwendungen stehen Nutzer:innen gegenüber, die eher scheu sind und nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Wenn diese Menschen dann auch noch in einer hermetischen Blase leben, kann man recht wenig tun. Wichtig ist jedoch, nicht zwischen richtig und falsch zu dichotomisieren. Wenn man also beispielsweise mit einem/einer Impfgegner:in am Tisch sitzt und polarisiert, schafft das nur Distanz in der Emotion. Das ist gefährlich, weil es so nur zu insularen Lösungen für jeden kommt und kein integraler Ansatz mehr möglich ist.
Welche Schritte setzen Sie diesbezüglich?
Es gibt mehrere Problemlagen, die wir zu bearbeiten haben. Denn auch die Wissenschaft organisiert sich oft insular. Auch Forschende wollen nicht immer mit ihren Ergebnissen an eine breite Öffentlichkeit herantreten, wenn sie dafür nur Hassmails bekommen. Manche machen also in ihren Klüngeln Wissenschaft und sind ebenfalls in ihrer Bubble zuhause. Synergetische Effekte können künstlerisch-kreative Methoden schaffen, weil die Freiheit der Kunst immer noch eine Möglichkeit ist, Dinge mit einem gewissen Augenzwinkern aufs Tapet zu bringen. In diesem Sinne arbeiten wir zusammen mit der Ars Electronica und der Johannes Kepler Universität Linz an einem offenen Projekt zum KI-Gap.
Welche Projekte und Visionen haben Sie noch?
Im Rahmen des Cancer Mission Labs, einem Projekt, das durch die Nationalstiftung (Fonds Zukunft Österreich) gefördert wird, interessiert uns alles rund um den Krebs, außer dem Krebs selbst. Wir kümmern uns darum, was rundherum mit den Angehörigen und den Betroffenen passiert, wie die Versorgungslage ist und was sich an der Lebenssituation ändern kann. Die wenigsten Leute verstehen, dass das LBG OIS Center anders ist als Innovationsabteilungen in Unternehmen. Wir arbeiten nicht gezielt an einem Produkt oder Ergebnis, sondern indem Patient:innen, Ärzt:innen, Pflegekräfte oder Betroffene mit uns etwas gemeinsam erarbeiten.
Was ist also zusammengefasst das Ergebnis eines Open-Innovation-Ansatzes?
Das Erste und Einfachste ist der Perspektivenwechsel. Wir schauen mit anderen Augen auf das, was wir tun und vorfinden. Das macht ganz viel aus. Wenn ich plötzlich auf ein Thema nicht als Ärztin oder Arzt, sondern als Patient:in blicken kann und somit Informationen erhalte, wie Patient:innen und Angehörige dies erfahren und erleben, kann ich mehr Verständnis füreinander herstellen. Zweitens entstehen neue Erkenntnisse und neue Initiativen, wenn Personen in Interaktion treten. Wir als LBG OIS Center sind somit ein Inkubator für neue Fragestellungen.
Ein Brutkasten für Ideen?
Ja, genau. Es geht um Menschen und Kommunikation und das Erkennen von Zusammenhängen. Es reicht nicht, wenn man Pflegenden, die Sterbende pflegen, ein Handy und eine App gibt. Im sozialinnovativen Feld muss man Wahrnehmungen verändern, und ich möchte auch eine ethische Diskussion dazu anstoßen. Wir zielen auf Einbindung, co-kreative Prozesse, Wertschätzung, Anteilnahme und Teilhabe ab. Eine Theorie der Veränderung kann man allen Beteiligten verschreiben.
Wohin möchten Sie in den nächsten zehn Jahren?
Ich würde die Entwicklungsdynamik so sehen, dass wir mit dem, was wir gestartet haben, noch mehr Wissen darüber in der Gesellschaft schaffen können, welchen Zusammenhang wir mit gesellschaftlich herausfordernden Prozessen angestoßen haben: Wie bringen wir Junge in die Bildung? Was machen wir mit den Älteren? Wie denken wir Mobilität? Wie wollen wir in Zukunft arbeiten? Was brauchen wir an Ressourcen, und wieso brauchen wir so viele Ressourcen? Das sind die wirklich großen Fragen, mit denen ich mich sehr gerne beschäftige!
Eva Stanzl ist Wissenschaftsredakteurin der Wiener Zeitung und Vorsitzende des Klubs der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist:innen.