Vesikel gegen Vernarbungen
LBI for Nanovesicular Precision Medicine at the Paris Lodron University of SalzburgMario Gimona und sein Team suchen nach extrazellulären Vesikeln, die immunologische Prozesse modulieren und sich deshalb vielleicht als Therapeutika eignen. Im hochreinen Labor der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg werden diese hergestellt, getestet und bestmöglich beschrieben, um sie für klinische Studien nutzbar zu machen. 2024 standen die Indikationen Sehnenverletzung und Cochlea-Implantat im Innenohr im Fokus.
Am 2024 neu gegründeten Ludwig Boltzmann Institut für Nanovesikuläre Präzisionsmedizin (LBI-NVPM) in Salzburg wird in vier eng miteinander verschränkten Forschungslinien gearbeitet, um die Biologie der zellulären Kommunikation mittels sogenannter ‚extrazellulärer Vesikel‘ in Präzisionsmedikamente zu transformieren. Die winzig kleinen, bläschenartigen Vesikel werden von allen Zellen in allen Organismen abgegeben und transportieren molekulare Information von Sender- zu Empfängerzelle. Da sie dabei teilweise große Distanzen, biologische Barrieren und Organismengrenzen überwinden und ihr Ziel präzise ansteuern, birgt dies enormes Potenzial zur zielgerichteten Wirkstoffverabreichung; Die Botenfunktion kann darüber hinaus ausgenutzt werden, um Zellen gezielt anzusteuern und Heilprozesse auszulösen. Um solche neuartigen Therapieansätze zu ermöglichen, konzentrieren sich die Forscher am LBI-NVPM auf genau jene Fragestellungen, die auf dem Weg zur Anwendung nanovesikulärer Wirkstoffe gelöst werden müssen. Begleitend zu den beiden therapeutischen Programmen wird dabei mit 360°-Blick sowohl an fundamentalen, anwendungsrelevanten Mechanismen geforscht, als auch an neuen Technologien, die entwickelt werden müssen, um beispielsweise Nanovesikel für pharmazeutische Anwendungen herzustellen, zu verändern, zu vermessen oder im Körper zu verfolgen.
Das LBI wurde an der Natur- und Lebenswissenschaftlichen Fakultät der Paris Lodron Universität Salzburg (PLUS) eingerichtet. Hier stehen dem Forschungsteam moderne Labore zur Verfügung. Ergänzt wird diese Infrastruktur durch das GMP-Labor (Good Manufacturing Practice) der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) sowie durch das Universitätsinstitut für Transfusionsmedizin der PMU am Universitätsklinikum Salzburg.
Bei einer Stammzell-Therapie wird versucht, Zellen mit regenerativen Fähigkeiten dort einzubringen, wo ein Schaden im Körper zu reparieren ist. Mario Gimona versucht, die Zellen selbst in der Therapie aus dem Spiel zu nehmen. Der Leiter der Programmlinie für nanovesikuläre Therapeutika arbeitet an zellfreien Therapien mit extrazellulären Vesikeln. Vesikel sind winzige Bläschen im Nanometerbereich, die jede Zelle im Körper – je nach Funktion und Bedarf – abschicken kann. Darin verpackt oder an der Hülle befestigt sind Moleküle, die mit anderen Zellen kommunizieren oder Signale geben.
Der Vorteil zellfreier, nanovesikulärer Therapie gegenüber herkömmlicher Zelltherapie liegt darin, dass nahezu jede in einen Organismus eingebrachte Zelle für den Empfänger fremd ist. Diese Zellen könnten vom Immunsystem abgestoßen werden oder eine Immunreaktion lostreten. Die Vesikel sollten vergleichsweise universell wirken und einfach verstoffwechselt werden. Mario Gimona erläutert: „Wir wollen die Fähigkeiten von Nanovesikeln direkt als Therapeutika nutzbar machen. Aus dem Potpourri der Zellsekrete mit bis zu 2000 Proteinen, bis zu 800 unterschiedlichen Ribonukleinsäuren und zahllosen Lipiden versuchen wir, relevante Faktoren mit therapeutischen Eigenschaften herauszufiltern, ihre Funktion bestmöglich zu beschreiben und für eine bestimmte Indikation aufzubereiten.“ Im Körper werden Reparatur und Regeneration nicht durch ein einziges Signal oder einen einzelnen Wirkstoff losgetreten. In der Medizin wird ein Therapieansatz meist auf die Wirkung einer Komponente zugeschnitten. Aus dem grundsätzlich multifaktoriellen Gefüge der Nanovesikel müssen also jene Komponenten isoliert werden, die bei der jeweiligen Indikation wirken können.
Anfang 2024 begann das Team des LBI für Nanovesikuläre Präzisionsmedizin sein Zehnjahresprogramm mit Fokus auf Immunmodulation. Und schon im gleichen Jahr wurden Kandidaten für zwei verschiedene Indikationen auf Schiene gebracht. Die erste Anfrage kam von der Medizinischen Hochschule Hannover, wo nach einer Lösung für jene rund 20 Prozent Patient:innen gesucht wurde, deren Körper ein Cochlea-Implantat (CI) nicht gut annimmt. Das Implantat soll ertaubenden Menschen ein neues Hörerlebnis verschaffen, indem in der Hörschnecke elektronische Impulse ans Innenohr abgegeben werden. Wenn das CI allerdings als fremd erkannt wird, bildet sich Narbengewebe um die Sonde, die wie ein Isolierband wirkt. „Wir haben einen Ansatz mit Vesikeln entwickelt, der trotz der beschränkten Platzverhältnisse die Akzeptanz des Implantats verbessern soll. Wenn das Therapeutikum funktioniert, könnte es eine Art Blaupause für verschiedene Implantate werden“, erklärt Mario Gimona. Die zweite Studie experimentiert mit Vesikeln, welche die Sehnenheilung fördern sollen.
Mögliche passende Vesikel werden im Labor aus Nabelschnur-Stammzellen unter Reinraumverhältnissen gewonnen und charakterisiert. Die Nabelschnur ist eine spannende Stammzell-Quelle, weil sie im Körper über 40 Wochen zwei Lebewesen miteinander verbindet, die immunologisch eigentlich nicht kompatibel sind. Gewöhnlich wird sie nach der Geburt als medizinischer Abfall behandelt. Am LBI für Nanovesikuläre Präzisionsmedizin darf das interessante Gewebe mit Zustimmung der Spenderinnen für Forschungszwecke genutzt werden. „Diese Stammzellen sind immunprivilegiert und diese Eigenschaften suchen wir. Sie sezernieren wohl besonders viele Faktoren, die dafür sorgen, dass sich keine störenden Gefäße, Narben, Knochen oder Knorpel bilden, und fliegen unter dem Radar der körpereigenen Abwehr“, beschreibt Mario Gimona die Nabelschnur-Stammzellen. Aus zahlreichen Spenden werden die vielversprechendsten Kandidaten in einem aufwändigen Ausschlussprinzip in vitro und in vivo ausgesucht.
Das Fundament für diese Vesikel-Forschung wurde bereits 2014 mit der Fertigstellung des GMP-Labors der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg gelegt, das Mario Gimona schon im Aufbau betreute. 2015 wurde am Standort die behördliche Erlaubnis erteilt, zelluläre Arzneimittel nach dem Good-Manufacturing-Practice(=GMP)-Standard herzustellen. Wenn ein Therapeutikum nach vielen Versuchen in vitro und in vivo erstmals an einen Menschen verabreicht wird, gelten strenge Regeln. Damit eine experimentelle Therapie im Rahmen einer klinischen Studie genehmigt wird, muss die Substanz bereits hohe Standards erfüllen. Dazu Mario Gimona: „Wir müssen den Wirkmechanismus verstehen und beschreiben können, damit die Zulassung für eine klinische Studie überhaupt erfolgen kann.“
Mit Kolleg:innen, die am LBI für Nanovesikuläre Präzisionsmedizin in der benachbarten Vesikel-Programmlinie Assays zur Charakterisierung von Wirkstoffen entwickeln, gibt es eine enge Zusammenarbeit: „Wir dürfen kein Voodoo liefern. Ein ganzer Katalog leitet die Qualitätskontrolle für den Einsatz in einer klinischen Studie. Das neuartige Therapeutikum muss für die Patient:innen sicher sein, die aktive Substanz muss rein und definiert sein, wir müssen einen Effekt vorab messen, den möglichen Mechanismus beschreiben und Angaben zur Dosierung vorlegen können.“
Am LBI für Nanovesikuläre Präzisionsmedizin kommen verschiedene Interessenlagen gleichberechtigt zusammen und werden zur angewandten Therapieentwicklung verbunden. Der Patient oder die Patientin entscheidet, ob die Therapie aushaltbar ist. Der Mediziner oder die Medizinerin hat Ideen, was klinisch bewirkt werden soll und wie ein Wirkstoff verabreicht werden kann. Die Forschenden sagen, was sie in der Grundlage herausfinden wollen und können. Die Pharmafirmen überlegen, wie vielen Menschen das helfen kann. Mario Gimona ist Genetiker und Zellbiologe und sieht sich als pharmazeutischer Hersteller: „Die Essenz der Translation, vom Labor ans Krankenbett, ist die Kontrolle über den Herstellungsprozess und das Produkt. Wir müssen die nötigen Informationen systematisch und pragmatisch sammeln.“
Highlights
EVAnalyzer2.0
"EVAnalyzer", ein Programm, das für die Auswertung von Mikroskopiebildern aus der Forschung mit extrazellulären Vesikeln entwickelt wurde, geht in die zweite Runde: EVAnalyzer 2.0 wird im August 2024 auf der Gordon Research Conference in Maine das erste Mal der internationalen Gemeinschaft an Vesikelforscher:innen präsentiert und verzeichnet seither etwa 4.000 Downloads. Das Programm unterstützt Vesikelforscher:innen dabei, die kleinen Vesikel in unterschiedlichsten biologischen Proben und Modellsystemen zu quantifizieren und zu tracken. Es wurde als Open-Source-/Open-Access-Tool entwickelt, um niederschwellige Nutzung zu ermöglichen, Open Innovation in der Vesikelforschung zu unterstützen und wurde im internationalen Online-Seminar EV-Club als ‚Demokratisierung der Vesikelforschung‘ bezeichnet.
ESCRT-Studie
Die klinische Studie „Extrazelluläre Vesikel-angereicherte Sekretomfraktion (VSF1.01) zur Reduktion des cochleären Implantationstraumas (ESCRT). Eine offene, monozentrische Phase-I/IIa-Pilotstudie zur Untersuchung der Sicherheit der intrakochleären Applikation von mit hUC-MSC-EVs angereichertem VSF1.01 bei Patient:innen mit Cochleaimplantation“ wurde im Oktober 2024 genehmigt. Diese weltweit erste Evaluation eines vesikelbasierten Arzneimittelkandidaten zur Anwendung im Innenohr wurde von Forscher:innen des LBI entwickelt. Da das regulatorische Umfeld derzeit noch über keine umfassende Expertise im Umgang mit diesen neuartigen vesikelbasierten Biopharmazeutika verfügt, ist die regulatorische Beratung bislang nicht in der erforderlichen Tiefe etabliert. Umso bedeutender ist der Meilenstein der Studiengenehmigung, durch den sich das LBI-NVPM in Salzburg als führende Institution im Bereich der klinischen Translation von vesikelbasierten Therapien positionieren konnte.
OIS-MSPL: Open Innovation in Science / Medical Science Public Liaison
Unter dem Titel - Medical Science Liaison Management und Open Innovation in Science (MSLM and OIS) haben im Jahr 2024 unterschiedlichste Formate ihren Platz gefunden:
OeAD Science Advocates: Am 3. Juli waren wir Gastgeber einer Bildungsveranstaltung für das #OeAD "Science Advocates"-Programm. Wir begrüßten 20 Schüler:innen des Musischen Gymnasiums für einen Tag voller Wissenschaft, Experimente und Einblicke in die biomedizinische Forschung.
MSL-Serie: Eine neuartige Reihe von Veranstaltungen zu Science Medical Liaison und Open Innovation in Science (SML / OIS) wurde 2024 etabliert, um den interdisziplinären Austausch zur Forschung und Entwicklung nanovesikulärer Therapeutika zu fördern. Über 80 Forschende aus unterschiedlichen Fachbereichen tragen zu diesem monatlich stattfindenden Format bei und profitieren gleichermaßen davon.
Bahnbrechende Pharma Forschung: Salzburgs Landeshauptmann Wilfried Haslauer, Freyja-Maria Smolle-Jüttner, Präsidentin Ludwig Boltzmann Gesellschaft und Bundesminister Martin Polaschek besuchten unser Institut, das an bahnbrechenden Therapiemöglichkeiten arbeitet.
LNF – Lange Nacht der Forschung: Die Teilnehmer:innen konnten sich mit interaktiven Exponaten beschäftigen, wie z. B. einer Reise in einem lebensgroßen Vesikel durch den Blutkreislauf, um Medikamente dorthin zu bringen, wo sie benötigt werden, sowie mit spannenden Präsentationen, in denen unsere Arbeit mit Nanovesikeln für gezielte therapeutische Anwendungen vorgestellt wurde.
Das Team
Die Vesikelforschung ist ein außergewöhnlich vielfältiges Feld: Sie eröffnet einerseits neue Einblicke in grundlegende Mechanismen der Zellkommunikation und birgt zugleich das Potenzial, innovative Diagnose- und Therapieverfahren der Zukunft maßgeblich mitzugestalten. Gerade die Kombination aus Grundlagenforschung und starkem translationalem Potenzial macht es so faszinierend, in diesem Forschungsbereich zu arbeiten.
Leitung
Univ. Prof. Dr. Nicole Meisner-Kober
Institute Director & Research Group Lead RPL 1 – Nanovesicular drug shuttles