Praktikable Telemedizin im Rettungswagen
LBI Digital Health and Patient SafetyAm LBI Digital Health and Patient Safety wurden drei praktische Studien zur telemedizinischen Unterstützung von Rettungsteams vor der Einlieferung von Patient:innen ins Spital durchgeführt. Drei goldene Regeln sind zu beachten: Die Technik darf nicht ablenken, die Unterstützung keinen zusätzlichen Stress verursachen und am besten funktioniert es, wenn sich Betroffene an der Entwicklung beteiligen.
Wenn ein Notruf in der Rettungsleitstelle eingeht, zählt jede Sekunde. Notfallsanitäter:innen in Österreich müssen jeden Tag unter Hochdruck die Lebensgefährlichkeit der Lage richtig einschätzen und geeignete Maßnahmen einleiten. Braucht es notärztliche Verstärkung, wenn nicht bereits ein Notarzt oder eine Notärztin mitgeschickt wurde? Kann die Blutung vor Ort gestillt werden? Oder ist mit Blaulicht das nächste Krankenhaus mit OP-Team in Bereitschaft anzusteuern? Christina Hafner, PostDoc Researcher und Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin an der Medizinischen Universität Wien, beschäftigt sich am LBI Digital Health and Patient Safety mit telemedizinischer Unterstützung für den „prähospitalen Einsatz“, wie es im Fachjargon heißt.
Den Zeitdruck, die Aufgeregtheit im Umfeld des Patienten oder der Patientin, die Notwendigkeiten und Einschränkungen „auf der Straße“ – abseits der Ressourcen in einem Spital – kennt sie aus eigener Erfahrung: „Mein Herz brennt für die Notfallmedizin. Ich bin neben meinen Einsätzen im OP-Saal regelmäßig mit der Berufsrettung unterwegs. Mir ist es ein Anliegen, dass wertvolle Ressourcen und der Einsatz von Fachkräften sinnvoll verteilt werden. Wer einen Notarzt braucht, soll einen bekommen, wer ins Spital muss, kommt ins Spital. Ich beschäftige mich damit, wie bereits im Rettungswagen gute Entscheidungen getroffen werden können.“
2024 wurden gleich drei Studien zur digital vermittelten telemedizinischen Unterstützung am Einsatzort durchgeführt. Forschungspartner aus der Praxis war die Berufsrettung Wien, mit ihren Notfallsanitäter:innen in der Leitstelle, im Fahrzeug, am Einsatzort sowie dem High-Fidelity-Simulationszentrum. Untersucht wurde zum einen die Machbarkeit der Übertragung von Ultraschallbildern während einer Reanimation. Weiters wurde eine Simulationsstudie zur Reanimation von Kindern durchgeführt – eine Situation, die häufig auch erfahrene Notfallkräfte stresst. Diese Studie fand in einem Simulationszentrum mit einer realitätsnahen ferngesteuerten Reanimationspuppe und einer Schauspielerin als Kindesmutter statt. Bei einer zweiten Simulationsstudie in einem Einkaufszentrum wurde – ebenfalls unterstützt von Schauspieler:innen – die Anwendung eines Video-Notrufs getestet.
In der Leitstelle der Berufsrettung Wien werden Notrufe von ausgebildeten Notfallsanitäter:innen nach Dringlichkeit gereiht. Es liegt in der Natur der Situation, dass die Anrufer:innen nicht vom Fach, in einer Ausnahmesituation und vielleicht gestresst sind. Christina Hafner berichtet aus der Praxis: „Eine stark blutende Wunde stellt eine potenzielle Lebensbedrohung dar. Jedoch werden Blutungen oft dramatischer eingeschätzt, als es der tatsächlichen Situation entspricht. Auch Schmerzen in der Brust sind alarmierend, aber ist es ein Infarkt, bei dem sofort ein Herzkatheterlabor angesteuert werden muss, oder reicht eine interne Notaufnahme? Für die Einsatzkräfte geht es bei der telemedizinischen Unterstützung vor dem Eintreffen im Spital darum, nahtlos Rückfragen an spezialisierte Mediziner:innen stellen zu können, ohne den Fokus von ihren Patient:innen zu nehmen und ohne sich überwacht zu fühlen.
Auf dem Prüfstand gelebter Praxis steht auch das Equipment, also die stabile und sichere Datenübertragung von jeder Straßenecke, die rasche und gute Erreichbarkeit der Mediziner:innen im Spital und eine passende Integration der fernvermittelten Beratung in die Abläufe. Der Stress für die Einsatzkräfte soll sich durch das telemedizinische Konsil nicht erhöhen. Ihre Sorgfalt bei bewährten Handgriffen soll nicht gestört werden. Drei goldene Regeln für die Praxistauglichkeit digitaler Anwendungen kann Christina Hafner jedenfalls ableiten: Die Technik darf die Notfallsanitäter:innen nicht von ihren Tätigkeiten ablenken, die telemedizinische Unterstützung darf keinen zusätzlichen Stress verursachen und Lösungen müssen gemeinsam mit den an der Rettungskette Beteiligten entwickelt werden.
Beim Test des Video-Notrufs in der Leitstelle sollten die Disponent:innen bei der Einschätzung der Lage – am Beginn der Rettungskette – unterstützt werden. Ein wichtiger Input der Beteiligten war jedoch, dass Video-Notrufe belastender sein können.. Denn die Abwicklung der Video-Notrufe unterscheidet sich von der Arbeit am Notfallort, wo man helfen und das Handeln besser verarbeiten kann. Im Jahr 2025 soll am Institut die Partizipation von Notfallkräften bei der Entwicklung digitaler Tools mit Fokusgruppen und Co-Creation-Workshops noch mehr in den Fokus genommen werden.
Für die Studien meldeten sich hauptberufliche Notfallsanitäter:innen der Berufsrettung Wien freiwillig. Die Anästhesistin Christina Hafner hat ein großes Interesse an den Forschungsergebnissen. Wichtig ist, über das Vorhaben genau aufzuklären und die Beteiligten früh einzubeziehen: „Wir forschen qualitativ und quantitativ, offen und wertfrei. Es könnte genauso herauskommen, dass etwas keine gute Lösung ist.“
Um den Stresslevel und die Aufmerksamkeit der Rettungskräfte bei der telemedizinischen Beratung im prähospitalen Einsatz zu erheben, kommen in der Simulationsstudie Eye-Tracking-Brillen und ein standardisierter Fragebogen für kognitive Belastung und Stress zum Einsatz. Mit dem Aufzeichnen der Augenbewegungen werden Blickverhalten, Aufmerksamkeit und Dauer der visuellen Interaktionen gemessen. In den Simulationsstudien wurde evaluiert, ob Telemedizin die Sanitäter:innen während der Wiederbelebung unterstützt. Es konnte gezeigt werden, dass in der Gruppe mit Support die in den Leitlinien geforderten Maßnahmen schneller und vollständiger umgesetzt werden konnten und es zu keiner erhöhten kognitiven Belastung kam.
Highlights
Magdalena Eitenberger erhält das Fulbright Fellowship an der Columbia University
Ein herausragendes Highlight des Jahres war das Fulbright Scholar Fellowship von Magdalena Eitenberger. Von September bis Dezember 2024 arbeitete sie am Columbia University Irving Medical Center in New York City. Dort widmete sie sich einem Projekt zur Präzisionsmedizin aus medizinethischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive, mit besonderem Fokus auf Inklusion, Vertrauen und Datennutzung in marginalisierten Gruppen. Das Fellowship ermöglichte ihr nicht nur die Vertiefung ihrer Forschung, sondern auch die Präsentation des LBI DHPS-Projekts „Telemedizin in Justizanstalten“ auf einer Fulbright-Konferenz. Das Stipendium zeigt abermals die internationale Vernetzung und die wissenschaftliche Exzellenz unseres Instituts.
Habilitation von Dr. Maria Kletecka-Pulker
Ein Karrieremeilenstein im Jahr 2024 war die erfolgreiche Habilitation von Priv.-Doz. Dr. Mag. Maria Kletecka-Pulker, wissenschaftliche Direktorin des LBI DHPS. Mit ihrer Habilitationsschrift zum Thema „Normative Akte zur Erhöhung von Patientempowerment als Tool der Patientensicherheit“ hat sie einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaft geleistet. Ihre Forschung betont die Bedeutung von Patient:innensicherheit als zentrales Element qualitativ hochwertiger Gesundheitsversorgung. Diese Anerkennung unterstreicht nicht nur ihre wissenschaftliche Exzellenz, sondern auch die Rolle des Instituts als Vorreiter in diesem wichtigen Forschungsfeld.
AI Health Vienna 2024: Revolutionäre Gesundheitslösungen durch künstliche Intelligenz
Die zweite Ausgabe unserer multidisziplinären Tagungsreihe war 2024 das bedeutendste Event unseres Instituts, das den über 300 Teilnehmer:innen eine Plattform für bahnbrechende Diskussionen über den Einsatz Artificial Intelligence (AI) im Gesundheitswesen bot. Führende Expert:innen aus Medizin, Technik und Ethik präsentierten innovative Lösungen und beleuchteten die Herausforderungen, die sich aus der Integration von AI in die klinische Praxis ergeben. Organisiert in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Wien und weiteren Partnern, bot die Tagung Raum für interaktive Diskussionen und Networking. Sie unterstrich einmal mehr die Führungsrolle des LBI DHPS im Bereich der digitalen Gesundheit und Patient:innensicherheit und setzte neue Maßstäbe für die Zukunft der Gesundheitsversorgung.
Ausgewählte Publikationen
Optimising co-design processes in telemedicine innovation–developing a telemedical solution for emergency medical services.. Klager E, Lintschinger JM, Teufel A, Schaden E, Manschein V, et al. (2024).
Development and external validation of temporal fusion transformer models for continuous intraoperative blood pressure forecasting. . Kapral, L., Dibiasi, C., Jeremic, N., Bartos, S., Behrens, S., Bilir, A., ... & Kimberger, O. (2024).
A retrospective analysis of the need for on-site emergency physician presence and mission characteristics of a rural ground-based emergency medical service. . Lintschinger, J.M., Laxar, D., Kapral, L. et al. (2024).
Research areas and trends in family-centered care in the 21st century: a bibliometric review.. Hriberšek M, Eibensteiner F, Bukowski N, Yeung AWK, Atanasov AG and Schaden E (2024).
Focusing on experts: Expectations of healthcare professionals regarding the use of telemedicine in intensive care units. . Eitenberger M, Gerger G, Klomfar S, Klager E et al. (2024).
Digital Technology Applications in the Management of Adverse Drug Reactions: Bibliometric Analysis.. Litvinova O, Yeung AWK, Hammerle FP, Mickael M-E, Matin M, Kletecka-Pulker M, Atanasov AG, Willschke H. (2024)
Das Team
„Digital, sicher, gesund“ – Unter unserem neuen Motto haben wir 2024 unsere Forschungsschwerpunkte weiter verstärkt. Diese reichen z.B. von Machine-Learning-Ansätzen zur erfolgreichen Vorhersage von Blutdruckkrisen während Operationen, über telemedizinische Anwendungen in Notfällen und Notrufen, über partizipative und Open-Innovation-in-Science-Ansätze im Patient:innenbeirat bis hin zu empirisch begleiteten Analysen und Interventionen zur Verringerung von Sprachbarrieren in der Medizin und Klimafolgen für die Gesundheit. In zahlreichen nationalen und EU-Forschungsprojekten und Publikationen konnten wir eindrucksvoll zeigen, wie unser transdisziplinäres Team mit multimethodischen, quantitativen und qualitativen Ansätzen zur Stärkung der Patient:innen- und Mitarbeiter:innensicherheit mit Fokus auf digitale Tools beiträgt.
Leitung
Univ.-Prof. Dr. Harald Willschke
Wissenschaftliche Co-Leitung
Dr. Maria Kletečka-Pulker
Wissenschaftliche Co-Leitung
Elisabeth Klager, MSc
Administrative Leiterin