Österreichische Polizeigewalt
im nationalsozialistischen Terrorsystem
LBI für KriegsfolgenforschungNach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 wurde die österreichische Polizei in den nationalsozialistischen Unterdrückungsapparat integriert. In ihrer Funktion als Exekutivgewalt spielte sie eine wesentliche Rolle im Hinblick auf Kriegsverbrechen und den Holocaust. Im Projekt „Die Polizei in Österreich: Brüche und Kontinuitäten 1938–1945“ forschte Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx mit ihrem Team zur Geschichte des wichtigsten Exekutivkörpers der Zweiten Republik.
Von 2022 bis 2024 förderte das österreichische Bundesministerium für Inneres (BMI) ein Pilotprojekt, das sich zentralen Fragen rund um die spezifische Mitwirkung der österreichischen Polizei an der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft widmete: Wie handelte die Exekutive? Mit welchen Aufgaben war sie betraut? Welche Stellung im Unterdrückungsapparat hatte sie inne? Welche Handlungsspielräume gab es? Wie gestalteten sich die Entnazifizierung und Verfolgung von Verbrechen nach 1945?
Dass das Innenministerium unter Karl Nehammer und Gerhard Karner sich einer solchen Aufarbeitung öffnete und das Projekt selbst zur historischen Erfassung ausschrieb, bezeichnet Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des LBI für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, als wichtigen Schritt für die Erforschung jenes dunklen Kapitels in der österreichischen Zeitgeschichte. Denn während in Deutschland schon seit über 20 Jahren intensiv Forschung in diese Richtung betrieben wird, klaffte in Österreich bis dato eine große Lücke. Einzelne Teilaspekte, die zuvor bekannt gewesen waren (etwa die Rolle der Grazer Polizei im Dritten Reich oder die Verurteilung ehemaliger Polizisten durch sowjetische Militärtribunale in Österreich), stammten immerhin ebenfalls aus den Reihen des LBI für Kriegsfolgenforschung.
Daher bewarb sich Barbara Stelzl-Marx über das Institut für Geschichte der Universität Graz gemeinsam mit dem LBI für Kriegsfolgenforschung und in Kooperation mit dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und dem Mauthausen Memorial erfolgreich um das ausgeschriebene Projekt. In gegenseitiger Abstimmung konnten in zwei Jahren unermüdlicher Arbeit unzählige Akten aus dem Bestand des Innenministeriums (darunter vor allem Personalakten, Fotomaterial und Schachteln voller Protokolle zur Entnazifizierung der Polizei nach Kriegsende), der diversen Landespolizeidirektionen sowie aus weiteren Archiven durchforstet werden (Unterlagen sowjetischer Militärtribunale, Gerichtsakten, zeitgenössische Zeitungsartikel, Oral-History-Interviews und wissenschaftliche Sekundärliteratur). Im Fokus standen dabei sowohl die Rolle der Polizei bei der Organisation des Terrorregimes in der Heimat und in den eroberten Gebieten als auch die gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen und Entnazifizierungsmaßnahmen der Nachkriegszeit. Durch die Öffnung der Polizei-Archive gelang erstmals ein umfassender Einblick in die Arbeitsweise der Exekutive der Gewalt.
Die Bedeutung des Projekts erschöpft sich allerdings nicht darin, dass sich externe Wissenschaftler:innen zum ersten Mal überhaupt in Österreich mit diesem Thema in größerem Maßstab auseinandersetzen durften und Zugang zu den Akten des Innenministeriums bekamen. Noch viel weitreichender ist der Beitrag zur gesellschaftlichen Bewusstseinsstiftung, den das Projekt liefert. Entgegen dem landläufigen Verständnis ist das Thema ‚Nationalsozialismus‘ in Österreich nämlich noch keineswegs vollständig aufgearbeitet. Darüber hinaus schwindet mit der wachsenden zeitlichen Distanz zu den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs gerade unter den jüngeren Generationen zunehmend die Sensibilität für die Grausamkeiten der Vergangenheit bzw. die Mechanismen, die diese ermöglichten. Das Projekt macht somit in mustergültiger Weise deutlich, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor als Gewissen der Gesellschaft fungieren.
Auf die konkreten Forschungsergebnisse des Projekts zeigt sich Barbara Stelzl-Marx zu Recht stolz: „Es ist uns in nur zwei Jahren gelungen, wesentliche Impulse zu setzen und nachhaltig Aufklärung zu betreiben.“ Konkret nennen lassen sich in diesem Zusammenhang der 2024 im Böhlau Verlag erschienene Sammelband Exekutive der Gewalt (herausgegeben von Barbara Stelzl-Marx, Andreas Kranebitter und Gregor Holzinger) sowie der Ausstellungskatalog Hitlers Exekutive zur von Martina Zerovnik kuratierten und im März 2024 im Bundesministerium für Inneres in Wien eröffneten gleichnamigen Ausstellung. Diese befindet sich seit Juni 2024 – jeweils erweitert um bundeslandspezifische Themen – auf Bundesländertour: Nach Wien war sie in der Landespolizeidirektion Burgenland und im GrazMuseum zu sehen. Bis 2026 wird sie unter anderem noch im kärnten.museum in Klagenfurt, im Salzburg Museum, im Haus der Geschichte in St. Pölten, in der Lern- und Gedenkstätte Schloss Hartheim sowie an weiteren Orten in Tirol und Vorarlberg zu sehen sein.
Ausgewählte Einblicke in die Forschungsergebnisse wurden außerdem in der ORF-III-Dokumentation zeit.geschichte: Hitlers Exekutive – Die österreichische Polizei im Nationalsozialismus vom 23. März 2024 gegeben. Für Polizeischüler:innen und angehende Polizist:innen wurden sogar eigens Unterrichtsmaterialien zu Schulungszwecken erstellt, die die polizeiliche Grundausbildung und Fortbildungen innerhalb der Polizei ergänzen sollen. Zweck dieser Integration aktueller Forschungsergebnisse ist, „Prozesse und Zusammenhänge verständlich zu machen, die eine potenzielle Bedrohung für das demokratische Miteinander in unserem Rechtsstaat darstellen könnten“, so Barbara Stelzl-Marx.
Auf Grundlage der bisherigen Forschungsarbeit visiert die LBI-Leiterin im Übrigen bereits weiterführende Projekte an. Unter den Themen, die sich dabei im Zuge der Quellenuntersuchung herauskristallisiert haben, erwähnt sie etwa Untersuchungen zur Rolle der Frauen innerhalb der Polizei von 1938 bis 1945, zur Neuorganisierung und Entnazifizierung der Polizei nach Kriegsende oder zum polizeilichen Alltag an der Heimatfront in der damaligen „Ostmark“. Synergien gibt es auch in dem aktuell von Barbara Stelzl-Marx geleiteten und von der Bundesimmobiliengesellschaft initiierten Forschungsprojekt „Kontaminiertes Erbe?“, das sich aus der Perspektive der Gebäudegeschichte unter anderem mit der Polizei im Nationalsozialismus auseinandersetzt. Zu den Untersuchungsobjekten zählen dabei einzelne Gebäude des Innenministeriums (wie die ehemalige Gestapo-Zentrale in Graz), einige Landespolizeidirektionen sowie diverse Kasernen in Wien. „Denn obwohl die Spuren der Vergangenheit auf den ersten Blick oft unsichtbar sind“, ergänzt Stelzl-Marx, „sind sie subkutan dennoch vorhanden – eingebrannt in Biografien, Landschaften und auch Gebäude.“
Highlights
„Zeitenwenden – Wendezeiten?“ – 15. Österreichischer Zeitgeschichtetag
Nach 2016 war die Universität Graz, vom 11. bis 13. April 2024 Gastgeberin des mittlerweile 15. Österreichischen Zeitgeschichtetags. Mehr als 250 nationale und internationale Wissenschaftler:innen trafen bei der wichtigsten heimischen Fachkonferenz von Zeithistoriker:innen zusammen und tauschten ihr Wissen bei insgesamt 100 Vorträgen, Diskussionsrunden und Soundperformances aus. Die Leitung übernahmen Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Europäische Zeitgeschichte am Institut für Geschichte und Christiane Berth, Professorin für Zeitgeschichte am Institut für Geschichte. Im Rahmen des Kongresses wurden bei einem von Claudia Reiterer moderierten Festakt in der Aula der Universität Graz zwei Graz-spezifische Jubiläen gefeiert: 30 Jahre Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung und 40 Jahre Arbeitsbereich Zeitgeschichte an der Universität Graz.
Barbara Stelzl-Marx zum korrespondierenden Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gewählt
Die Österreichische Akademie der Wissenschaften begrüßte 34 neue Mitglieder in ihren Reihen. Sie alle zeichnen sich durch herausragende Expertise und wissenschaftliche Exzellenz in ihrem jeweiligen Bereich aus. Unter ihnen Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des LBI für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz. Mit der Verleihung des Dekrets am 16. Mai 2024 fungiert Barbara Stelzl-Marx künftig als korrespondierendes Mitglied der philosophisch-historischen Klasse im Inland.
Publikation und Wanderausstellung: Projekt „Lebensborn-Heim Wienerwald, 1938–1945“
Im Rahmen des Projektes "Lebensborn-Heim Wienerwald 1938–1945" ist die englischsprachige Publikation "Lebensborn Maternity Home Wienerwald, 1938–1945" erschienen. Das Heim Wienerwald war eine Einrichtung des SS-Vereins Lebensborn, die als Entbindungsanstalt die Geburtenrate der "arischen"-Kinder erhöhen sollte. Die Publikation wurde von Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des LBI für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Universität Graz, und Lukas Schretter, Programmlinienleiter „Kinder des Krieges“ am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, herausgegeben. Weitere wissenschaftliche Mitarbeiter:innen des LBI für Kriegsfolgenforschung wie Martin Sauerbrey-Almasy, Sabine Nachbauer und Nadjeschda Stoffers haben ihre Expertise in die Beiträge der Publikation eingebracht. Als Ergebnis ihrer Recherchen ist neben der Publikation auch die Wanderausstellung "Am Rande des Wienerwalds. Der Lebensborn in Feichtenbach" entstanden. Die Ausstellung des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz – Wien – Raabs, wurde in Kooperation mit dem Institut für Geschichte der Universität Graz unter der Leitung von Lukas Schretter realisiert und erstmals von 23. bis 26. November 2024 im Museum Niederösterreich präsentiert.
Ausgewählte Publikationen
Brückenbauer im Kalten Krieg. Österreich und der lange Weg zur KSZE-Schlussakte. Anna Graf-Steiner
Exekutive der Gewalt. Die österreichische Polizei und der Nationalsozialismus. Barbara Stelzl-Marx, Andreas Kranebitter, Gregor Holzinger (Hg.)
Lebensborn Maternity Home Wienerwald, 1938–1945. Barbara Stelzl-Marx – Lukas Schretter (Hg.)
Sport, Prestige, Profit. Historische Betrachtungen zum Run auf Ruhm und Reichtum. Walter Iber, Johannes Gießauf, Harald Knoll, Peter Mauritsch (Hg.)
Wie ein junger Anwalt Tausende Juden rettete. Die abenteuerliche Geschichte des Willy Perl. Robert Lackner
Das Team
Das Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung steht für innovative Forschung über die Auswirkungen von Kriegen und Konflikten des 20. Jahrhunderts. Mit professioneller Unterstützung durch die LBG und inklusiven Ansätze bauen wir auch Brücken zwischen historischer Forschung und Gesellschaft – um komplexe Fragestellungen umfassend und nachhaltig anzugehen.
Leitung
Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx
Leiterin
Doz. Mag. Dr. Peter Ruggenthaler
Stv. Leiter