Europa in Mauthausen
LBI for Digital HistoryDas Konzentrationslager Mauthausen war das größte Konzentrationslager auf dem Gebiet Österreichs. Vom 8. August 1938 bis zur Befreiung der Gefangenen am 5. Mai 1945 durch US-Truppen wurden in ihm und in seinen über 40 Außenlagern rund 190.000 Häftlinge interniert, von denen mindestens 90.000 nicht überlebten. Die vom LBI for Digital History betreute vierbändige Publikationsreihe „Europa in Mauthausen“ beruht auf einer einzigartigen Sammlung von 859 Oral-History-Interviews mit Überlebenden und einem langjährigen internationalen Forschungsprojekt.
Das 2001 bis 2003 durchgeführte „Mauthausen Survivors Documentation Project“ (MSDP) bot eine der letzten Möglichkeiten, überlebende Mauthausen-Häftlinge noch einmal umfassend zu Wort kommen zu lassen. Unter der Leitung von Gerhard Botz (LBI für historische Sozialwissenschaft) entstanden in einer Kooperation des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes mit dem Institut für Konfliktforschung 859 Interviews in 16 Sprachen mit Menschen, die jeweils für einen kürzeren oder längeren Zeitraum in Mauthausen oder in einem der zugehörigen Außenlager interniert gewesen waren. Das anschließende, vom LBI für historische Sozialwissenschaft gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien koordinierte internationale „Mauthausen Survivors Research Project“ (MSRP) findet nun mit der am LBI for Digital History redigierten vierbändigen Buchreihe Europa in Mauthausen seinen Abschluss. Es untersucht die Rolle des KZ im nationalsozialistischen Terrorsystem und widmet sich der Frage, warum Menschen verfolgt, verhaftet und nach Mauthausen deportiert wurden und was dort mit ihnen passierte.
Federführend neben Botz als Projektleiter waren die Historiker Alexander Prenninger und Heinz Berger (beide seit 2017 am LBI for Digital History) sowie Regina Fritz und Melanie Dejnega. Dutzende Forscher:innen unterschiedlichster Wissenschaftsdisziplinen aus Europa, den USA und Israel arbeiteten an dem Projekt mit. Zentral für die Auswertung der Interviews war eine eigens angelegte und von Berger betreute Datenbank. „Verzeichnet wurden darin unter anderem die persönlichen Daten der befragten Personen, die Gründe für ihre Deportation, ihre Einstufung laut der SS, ihre Deportationswege, der genaue Ort und die Dauer ihrer Inhaftierung, ihre Erlebnisse im Lager und ihr weiteres Schicksal nach 1945“, so Berger. Diese Datenbank, um zusätzliche Daten aus dem Bestand der Arolsen Archives und anderer Archive ergänzt, fungierte neben den 859 Interviews als Grundlage für die in der Buchreihe Europa in Mauthausen vorgelegten Forschungsergebnisse. Nach den bereits 2021 erschienenen Bänden 1 und 2, die sich neben methodischen Fragen der Rolle des KZ Mauthausen im System der nationalsozialistischen Eroberungs- und Verfolgungspolitik und den komplexen Wegen der Häftlinge nach Mauthausen widmeten, kam 2024 der dritte Band heraus. Dieser thematisiert das Alltagsleben in Mauthausen zwischen Terror, Zwangsarbeit und Tod. Weitab des gängigen Topos von bloßen Überlebensstrategien stellen die Herausgeber:innen Fritz, Prenninger, Botz und Berger die soziale Dynamik der Häftlinge sowie deren Zusammenleben als ‚Mikrogesellschaft‘ in den Vordergrund. Ein letzter Band zum Leben der befreiten Häftlinge nach 1945 wurde noch 2024 abgeschlossen und wird voraussichtlich 2025 veröffentlicht.
Zu den wesentlichen Erkenntnissen von Band 3 gehören laut Prenninger insbesondere zwei: Zum einen war Mauthausen für viele Häftlinge oft die Endstation nach unzähligen Zwischenstationen in anderen Lagern in Europa. Die wahren Dimensionen dieses Deportationssystems sowie die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Institutionen und Internierungsstätten traten somit erstmals breit zutage. Zum anderen führten die von den Verfolgungsinstitutionen, der nationalen und sozialen Herkunft und auch der Religion bestimmten Deportationswege der Überlebenden zu einer Pluralität von Erfahrungen. Überlebende sind nicht gleich Überlebende. Ihre Erlebnisse sind so persönlich, wie sie als Menschen einzigartig sind.
Die Forschungsergebnisse, die sich in den genannten Bänden finden, zeichnen sich durch die methodische Verschränkung von statistischem und qualitativem Ansatz aus. Dabei hatten die Forschenden mit einigen methodischen Herausforderungen zu kämpfen. So gibt es etwa kaum deutsche Überlebende, weil von Deutschland aus nur wenige Personen nach Mauthausen deportiert worden waren und die meisten davon Anfang der 2000er-Jahre schon verstorben waren. Zudem waren Frauen in der Geschichte des Lagers lange aufgrund der Tatsache unterrepräsentiert, dass das KZ Mauthausen erst ab September 1944 auch Frauen aufnahm. Um auch ihre Geschichte schreiben zu können, wurden sie, ebenso wie jüdische Überlebende, im Interviewprojekt bewusst überrepräsentiert. Im Hinblick auf die Auswertung bleiben viele offene Fragen, die ein Betätigungsfeld für zukünftige Forschung bieten. Manche internationale Beteiligte des Interviewprojekts machten die von den Teams im jeweiligen Land geführten Interviews öffentlich zugänglich (in Polen und Ungarn eröffnete man entsprechende audiovisuelle Archive), andere Teilbestände der Interviews sind aber weder öffentlich zugänglich, noch liegen für sie gar Transkriptionen oder Übersetzungen vor. „Dazu fehlen schlicht die Gelder“, hält Prenninger bedauernd fest. „Transkriptionen und Übersetzungen können selten über Forschungsgelder finanziert werden. Allerdings könnte KI hier in Zukunft wesentliche Abhilfe leisten.“
Der Erfolg dieses nach vielen Jahren zum Abschluss gekommenen Projekts liegt letztlich in der gesellschaftlichen Aufklärung. Die Interviews und die darauf aufbauende Forschungsarbeit gleichen wesentliche Defizite im Wissen über das Leben im KZ aus. Gleichzeitig räumen sie mit populären Mythen und der eindimensionalen Darstellung von KZs in der öffentlichen Wahrnehmung auf. „Europäische Erinnerungskultur zu leben“, sagt Berger, „bedeutet eben, die Vielfalt der Erfahrungen von Verfolgung und Haft herauszustellen. Dazu gehört, sich nicht nur auf den Holocaust zu konzentrieren, sondern auch die Geschichten nicht-jüdischer Verfolgter sichtbar zu machen.“ Darüber hinaus werfen die gewonnenen Einblicke ein neues Licht auf die europäische Dimension des KZ Mauthausen. Wie jedes andere KZ hatte auch das Lager Mauthausen einen zutiefst ‚europäischen Charakter‘. Nicht nur deutschsprachige Häftlinge waren dort inhaftiert. Mauthausen war Haftstätte und Todesort unzähliger Verfolgter aus aller Herren Länder.
Dass die LBG einen wesentlichen Anteil an dieser Fülle von neuen Forschungsergebnissen hat, wissen Berger und Prenninger sehr zu schätzen. „Bei Langzeitprojekten wie diesem kommt es immer wieder zu Engpässen in der Finanzierung. Die LBG hat die Bedeutung des Projekts aber erkannt und finanziell sowie ideell großartig unterstützt.“ Damit zeigt sich einmal mehr der breite geisteswissenschaftlich-gesellschaftliche Beitrag, den die LBG leistet.
Highlights
Die visuelle Geschichte des Holocaust: Zeitgeschichte mit digitalen Mitteln: Panel am Österreichischen Zeitgeschichtetag 2024, 11. April 2024, Universität Graz
Im Zentrum des Panels stand das vom LBIDH koordinierte EU-Projekt „Visual History of the Holocaust: Rethinking Curation in the Digital Age“ (VHH), in dem der Einsatz digitaler Werkzeuge in der Holocaustforschung- und vermittlung erprobt wurde. Die Panelbeiträge skizzierten die vielfältigen Potenziale und Herausforderungen im Umgang mit historischen Film- und Textquellen, reflektierten deren ethische und methodische Konsequenzen und diskutierten, wie die digitale Verfügbarkeit von Bildern und Zeugnissen nicht nur neue Forschungswege ermöglicht, sondern auch unsere Geschichtsvorstellung prägt.
Karl Kraus und die Institutionen: Internationales Symposium des LBI for Digital History und der Wienbibliothek im Rathaus, 13.-14. Jun 2024, Loos-Räume, Wien
Institutionen bilden das Rückgrat jeder Gesellschaft. Anlässlich des 150. Geburtstags von Karl Kraus beleuchtete das Symposium die zentrale Bedeutung von Institutionen als Zielscheibe von Kraus' satirischer Kritik ebenso wie als Instanzen der heutigen Bewahrung und Erforschung seines Werks. Diskutiert wurden rechtliche und politische Institutionen, der Einfluss von Institutionen auf die Textproduktion und -rezeption sowie Kraus' prekäres Verhältnis zu Institutionen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt organisieren.
BTWH-Konferenz 2024 | Brno: Terraforming: Planetary Engineering in Literature, Art, and Media 1900-1950, 26.-30. Juni 2024, Masaryk University Brno
Terraforming bezeichnet den von Menschen kontrollierten Prozess einer Herstellung erdähnlicher Lebensbedingungen auf fremden Planeten. Zurück auf die Erde gewendet, steht Terraforming für massive technologische Eingriffe in Umwelt und Gesellschaft mit weitreichenden, oft nicht intendierten Folgen. Die vom LBIDH mitveranstaltete Jahrestagung des internationalen Forschungsnetzwerks BTWH (Berkeley/Tübingen/Wien/Harvard) fand 2024 in Brno statt und widmete sich diesem zukunftsweisenden Thema an der Schnittstelle zwischen Science und Science Fiction anhand von frühen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten sowie Filmen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Filmographien als Orte der Erinnerung: Tagung der Arbeitsgruppe der Cinematographie des Holocaust, 09.-11. Dezember 2024, Filmmuseum Potsdam & Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf
Die vom LBIDH mitveranstaltete Tagung widmete sich Filmographien als „Orten der Erinnerung“. Dabei wurde untersucht, wie Filmographien als konzeptionelle Gegenentwürfe zur traditionell fallorientierten Filmforschung fungieren und zugleich als Grundlage der filmwissenschaftlichen Arbeit dienen. Darüber hinaus stand im Fokus, auf welche Weise Filmographien eine Brücke zwischen Makroperspektiven auf historische oder thematische Entwicklungen und Mikroperspektiven auf einzelne Werke schlagen und wie sie - etwa in der Holocaustforschung durch das Sichtbarmachen marginalisierter Filme - zur kulturellen Erinnerung beitragen. Die Tagung zeigte damit, dass Filmographien nicht nur Dokumentationsinstrumente, sondern auch zentrale Gedächtnisorte der Filmgeschichte sind.
Ausgewählte Publikationen
Gefangen in Mauthausen (Europa in Mauthausen. Geschichte der Überlebenden eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers, Bd. 3). Regina Fritz, Alexander Prenninger, Heinz Berger u.a. (Hg.)
Karl Kraus und die Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek (Literaturgeschichte in Studien und Quellen - Band 37). Isabel Langkabel, Laura Untner (Hg.)
„Amateur Films from National Socialist Austria as Visual Responses to Nazi Propaganda”, in: Ulrike Weckel (Hg.): Audiences of Nazism. Using Media in the Third Reich. Michaela Scharf
„Virtual Topographies of Memory. Liberation Films as Mobile Models of Atrocity Sites“, in: Lucie Česálková, Johannes Praetorius-Rhein, Perrine Val und Paolo Villa (Hg.): Non-fiction Cinema in Postwar Europe: Visual Culture and Reconstruction of Public Space. Fabian Schmidt, Tobias Ebbrecht-Hartmann
’For Us, Bühne is Everything that has an Audience‘. Masses and Mass Arts in the Viennese Lifestyle Magazine Die Bühne in the 1920s and 1930s“, in: Figures of the Crowd in Central Europe.. Marie-Noëlle Yazdanpanah
Das Team
In einer kompetitiven Forschungslandschaft mit begrenzten Fördermitteln bietet das LBIDH den Raum für die Entwicklung innovativer Ideen in internationalen und interdisziplinären Forschungsnetzwerken. Das intellektuelle Umfeld des Instituts und der professionelle Support der LBG sind sehr gute Bedingungen für eine solide Forschungspraxis.
Leitung
Mag. Dr. Ingo Zechner
Leiter