Gerechtigkeit für alle

LBI für Grund- und Menschenrechte

In der EU gibt es nur wenige Initiativen zu Personen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen, denen die Freiheit im strafrechtlichen Kontext entzogen ist. In einer aktuellen Studie konnte das LBI für Grund- und Menschenrechte gemeinsam mit anderen Kooperationspartnern zeigen, wo die internationale Zusammenarbeit Lücken aufweist und wo Nationalstaaten nachschärfen müssen.

In den letzten zwei Jahrzehnten ist der Bedarf an einer verbesserten justiziellen Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten erheblich gestiegen. Die Europäische Kommission hat dazu eine Reihe von Verfahrensrechtsinstrumenten verabschiedet, um die justizielle Kooperation in Strafverfahren zu erleichtern. Während sich viele einschlägige Projekte mit Grundrechtsproblematiken von Gefängnisinsass:innen allgemein befassten, gab es bisher nur wenige Initiativen zu Personen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen, denen die Freiheit im strafrechtlichen Kontext entzogen ist. Insbesondere wurde den Herausforderungen, mit denen diese Gruppe in grenzüberschreitenden Fällen konfrontiert wird, kaum Aufmerksamkeit geschenkt.

Um diese Lücken zu schließen, wurde das Projekt GERECHTIGKEIT FÜR ALLE ins Leben gerufen. Das Ziel des Projekts war es, Herausforderungen, Lücken und bewährte Praktiken hinsichtlich der Umsetzung und praktischen Anwendung der wichtigsten europäischen Rahmenbeschlüsse in diesem Bereich (wie etwa des Europäischen Haftbefehls oder der Europäischen Überwachungsanordnung) zu untersuchen. Zudem beschäftigte sich das Projekt mit innerstaatlichen Fragen, die in der Praxis ein Hindernis für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit darstellen können.

Projektkoordinatorin Bernadette Fidler vom LBI für Grund- und Menschenrechte konnte „auf der internationalen Ebene unterschiedliche Rechtsauslegungen der verschiedenen menschenrechtlichen Standards im Hinblick auf Personen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen feststellen“. Es ist nach wie vor sehr schwierig, genaue Zahlen zu straffällig gewordenen Menschen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen zu erheben, da die Erhebungs- und Bewertungskriterien nicht EU-weit harmonisiert sind und straffällig Gewordene nicht nur in speziellen Einrichtungen, sondern auch im Regelvollzug untergebracht sind.

Im Hinblick auf die Rahmenbeschlüsse zeigen sich Unterschiede in der Praxis. Der Europäische Haftbefehl ist in den nationalen Behörden bekannt, ihm wird häufig Vorrang gegeben. Rahmenbeschlüsse, welche die Resozialisierung und Reintegration der betroffenen Personen als Ziel haben und die Anwendung von Alternativen zur Haft vorsehen, wie etwa die Europäische Überwachungsanordnung, sind in den Mitgliedstaaten noch wenig bekannt und werden kaum genützt. In der Praxis werden vor allem Lösungen gewählt, die eher informell und pragmatisch sind. Einheitliches Vorgehen ist kaum erkennbar: „Wie gut Menschen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen durch diese Prozesse begleitet werden, wie sorgfältig sie durchgeführt werden, ist oft abhängig vom Engagement einzelner Personen“, sagt Fidler. „Hier braucht es mehr grenzüberschreitende Kommunikation zwischen den Gerichten und insbesondere auch anderen involvierten Akteur:innen und Einrichtungen der einzelnen Mitgliedstaaten.“

Finden Überstellungen aus forensisch-psychiatrischen Zentren in Einrichtungen in anderen Mitgliedstaaten statt, kann es mitunter zu massivem Wissensverlust auf Seiten der Institutionen kommen: „Damit eine Person im anderen Land nicht wieder ‚bei null beginnt‘, müsste ganz viel Information von Anstalt zu Anstalt übermittelt werden. Das passiert zurzeit nicht immer und ist auch im Hinblick auf Datenschutz eine komplexe Angelegenheit“, sagt Fidler.

Österreich wird für den Maßnahmenvollzug seit Jahren sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene scharf kritisiert.

Fidler sieht weiterhin Bedarf der Etablierung innerstaatlicher Qualitätsstandards für die Gutachtenerstellung durch Sachverständige im Hinblick auf Personen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen. Mangelnde Beurteilungskriterien haben zur Folge, dass Bewertungen nicht immer nachvollziehbar sind, Gutachten werden teilweise in Copy-Paste-Manier erstellt. Der Freiheitsentzug von Menschen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen, der in der sogenannten „vorbeugenden Maßnahme“ weit über die Strafdrohung der Anlasstat hinausreichen kann und auch unbefristeten Freiheitsentzug ermöglicht, wurde mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.

Es fehle zudem an zielgerichteter Betreuung, sowohl während des Strafverfahrens als auch nach einer etwaigen Entlassung, sagt Fidler. Und: „Relevante und individuelle Therapien und Unterstützungen beginnen oft (zu) spät. Dadurch tritt die Besserung bzw. der Therapiefortschritt, den es zur Entlassung braucht, nicht oder eben später ein. […] Gäbe es eine zeitliche Limitierung, würde man auch intensiver daran arbeiten, die besten und raschesten Therapieerfolge zu erzielen.“ Insgesamt sieht Fidler die mangelnde zeitliche Limitierung sehr kritisch, da sie bei den betroffenen Personen auch oft zur Perspektivenlosigkeit führt.

Auch die derzeitige Situation der rechtlichen Vertretung in Österreich sieht Fidler kritisch. So besteht einerseits für Personen mit intellektuellen und/oder psychosozialen Beeinträchtigungen im Ermittlungsverfahren oft noch keine verpflichtende Rechtsvertretung. „Die Forschung zeigt, dass gerade im Ermittlungsverfahren häufig Handlungen gesetzt oder Aussagen getätigt werden, die sich als maßgeblich für den Verfahrensausgang herausstellen. Die Betroffenen bekommen während dieser Zeit aber oft noch keine Unterstützung“, erklärt Fidler. Das individuelle und schnelle Abwägen, ob jemand Unterstützung braucht, ist dabei von besonderer Bedeutung. Andererseits mangelt es auch an der Vertretung während der Unterbringung, um sicherzustellen, dass betroffene Personen über ausreichend Unterstützung während des Vollzugs verfügen.

Die Projektkoordinatorin sieht den Austausch zwischen den unterschiedlichen Stakeholdergruppen, der durch das Projekt entstanden ist, als essenziell an, um die juristische Zusammenarbeit über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg zu verbessern.

Das Projekt lief über zwei Jahre und wurde von der Europäischen Kommission kofinanziert. Das LBI für Grund- und Menschenrechte (Österreich) leitete das Projektkonsortium, dem auch das Bulgarian Helsinki-Komitee (Bulgarien), die Fachhochschule Dortmund (Deutschland), Antigone (Italien), Mental Health Perspectives (Litauen) und das Peace Institute (Slowenien) angehörten. Die Ergebnisse stammen sowohl aus Literaturrecherchen als auch Interviews und aus nationalen sowie EU-weiten Workshops mit unterschiedlichen Stakeholdern wie Rechtsanwält:innen, Vertreter:innen von NGOs, Bewerbungshelfer:innen und Vertreter:innen von Nationalen Präventionsmechanismen (NPM).

Highlights

Große internationale Menschenrechtstagung in Wien

Auf Einladung des Instituts für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien sowie des Ludwig Boltzmann Instituts für Grund- und Menschenrechte (LBI-GMR) tagten Ende September 2023 mehr als 90 internationale Referent:innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft in Wien. 30 Jahre nach der wegweisenden UN-Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 diskutierten die Expert:innen über Errungenschaften, Herausforderungen und Lösungsansätze für den Schutz der Menschenrechte. Über 250 Teilnehmende besuchten die dreitägige Veranstaltung, die an der Uni Wien und im Justizministerium stattgefunden hat.

Projekt zur Förderung der Rechtsstaatlichkeit in Nordmazedonien gestartet

Am 21. September 2023 fand in Skopje die offizielle Auftaktveranstaltung des Projekts „EU-Unterstützung für Rechtsstaatlichkeit in Nordmazedonien“ statt. Das von der EU finanzierte und vom LBI-GMR koordinierte dreijährige Projekt wird die Rechtsstaatlichkeit in Nordmazedonien im Hinblick auf den Justizsektor, die Polizei, die Korruptionsbekämpfung und die Menschenrechte stärken. Es stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg des Landes zur EU-Mitgliedschaft dar.

Erfolgreicher Abschluss des Forschungsprojekts „Das Konzept der Vulnerabilität im Kontext der Menschenrechte“

Das vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderte Projekt machte deutlich, dass kein eindeutiges rechtliches Verständnis des Konzepts der Vulnerabilität existiert. Seine Anwendung mobilisiert häufig stereotype Narrative, was für das Erreichen von Gleichstellung und die Beseitigung struktureller Diskriminierung problematisch ist. Auf Grundlage dieser Ergebnisse wurden u.a. Empfehlungen für politische Entscheidungsträger:innen, Jurist:innen und eine breitere Öffentlichkeit formuliert.

Human Rights Talk „Klimaschutz und Generationengerechtigkeit“

Welche konkreten Maßnahmen braucht es, um künftigen Generationen einen lebenswerten Planeten Erde zu hinterlassen? Sind Störaktionen oder auch Klimaklagen ein probates Mittel, um die Menschheit zum Handeln zu bewegen? Und wer trägt letztendlich die Verantwortung? Im Vorfeld des internationalen Tages der Menschenrechte diskutierten Anfang Dezember hochkarätige Expert:innen in der bis auf den letzten Platz gefüllten Roten Bar im Wiener Volkstheater über das Zusammenspiel zwischen Menschenrechten und Umwelt.

Ausgewählte Publikationen

Climate Change. Ammer, Margit

Binder, Christina / Nowak, Manfred / Hofbauer, Jane / Janig, Philipp: Elgar Encyclopedia of Human Rights. Cheltenham: Elgar, 2023, pp. 268-279. https://www.elgaronline.com/view/book/9781789903621/b-9781789903621.climate.change.xml

Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts? Eine rechtliche Würdigung des Angriffskrieges der Russischen Föderation gegen die Ukraine. Fremuth, Michael Lysander

Österreichischer Juristentag (Hrsg.), Tagungsband, Abteilung Öffentliches Recht, 2023, S. 92–119

Vom Ende des „Business as Usual” – Aktuelle Entwicklungen und Muster der Regulierung von unternehmerischen Sorgfaltspflichten. Fremuth, Michael Lysander

Heger [et al.] [eds.]: Der Schutz des Individuums durch das Recht, Liber Amicorum Rainer Hofmann, 1. ed., Berlin: Springer, 2023, pp. 817–843. https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-662-66978-5

Wie krisenfest ist das Kinderrecht auf Bildung? Qualitätsfaktoren für eine resiliente Schule. Sax, Helmut

SchulVerwaltung aktuell Österreich 1/2023 – Fachzeitschrift für Schulentwicklung und Schulmanagement. pp. 25-27

User-generated evidence – a helping hand for the ICC investigation into the situation in Ukraine?. Stavrou, Konstantina

http://opiniojuris.org/2022/03/14/user-generated-evidence-a-helping-hand-for-the-icc-investigation-into-the-situation-in-ukraine/

Das Team

Einen wissenschaftlichen Beitrag zur Aufklärung und Verfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen zu leisten, ist seit dem Bestehen des LBI-GMR ein wesentlicher Forschungspfeiler des Instituts. Das LBI-GMR bietet mir daher einen idealen Rahmen für meine Forschungstätigkeit und Third-Mission-Aktivitäten hinsichtlich der Wechselwirkung zwischen dem Völkerstrafrecht und der Menschenrechte, insbesondere auch dem Einsatz nationaler Strafjustiz.

Universitätsassistent und Leiter des Programms "International Criminal Law and Human Rights" am LBI-GMRMag. Andreas Sauermoser

Leitung

Univ.-Prof. Dr. Michael Lysander Fremuth

Wissenschaftlicher Leiter

Mag. Patricia Mussi-Mailer, MA

Administrative Leiterin

3
Key-Researcher:innen
5
Postdocs
7
PhD-Student:innen/Dissertant:innen
2
Diplomand:innen/Masterstudent:innen
4
Wissenschaftliche Fachkräfte
4
Wissenschaftliches Forschungspersonal
6
Administratives Personal
1
Sonstiges Personal

Partner

Universität Wien (AT)
Stand: Mai 2024

Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Dr. Martina CaroniUniversität Luzern (CH)
Prof. Dr. Rainer HofmannUniversität Frankfurt (DE)
Prof. Dr. Vasilka SancinUniversität Ljubljana (SL)
Stand: Mai 2024

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