Encampment in der sowjetischen
Besatzungszone Österreichs

LBI für Kriegsfolgenforschung

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone in Österreich eine Vielzahl verschiedener Lager. In ihnen wurden neben sowjetischen Soldaten, österreichischen Kriegsgefangenen und ehemaligen Nationalsozialisten vor allem Displaced Persons, deutschsprachige Vertriebene und Flüchtlinge untergebracht. Bisher gab es dazu kaum Forschung und wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit dem Projekt „Encampment in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs“ unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Barbara Stelzl-Marx will das LBI für Kriegsfolgenforschung diese Forschungslücke schließen. Erste Ergebnisse warten mit überraschenden Zahlen auf.

Sichtbare Spuren der umfassenden Lagerlandschaft der Jahre 1945 bis 1955 in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs gibt es heute nur noch selten. Ein Beispiel ist die einstige Lagerbaracke in der Lagergasse in Laa an der Thaya. Dort befand sich bereits während der NS-Zeit ein RAD-Lager, das nach dem Zweiten Weltkrieg zeitweise als Anhaltelager für ehemalige Nationalsozialisten und als Lager für Flüchtlinge und Vertriebene genutzt wurde.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs befanden sich zwischen 1,4 und 1,6 Millionen „Displaced Persons“ (DPs), Flüchtlinge und Vertriebene in Österreich. Viele dieser Menschen wurden in Lagern untergebracht. Während die Lagerstrukturen in der französischen, britischen und US-amerikanischen Besatzungszone als gut untersucht gelten, gab es bisher kaum Forschung über Lager und lagerähnliche Einrichtungen in der sowjetischen Besatzungszone. Betreiber der Lager war dabei nicht nur die Besatzungsmacht selbst, sondern auch österreichische Behörden oder kirchliche und private Initiativen.

Das vom Fonds für Wissenschaft und Forschung (FWF) und dem Land Niederösterreich geförderte Projekt „Encampment in der sowjetischen Besatzungszone Österreichs: Nachkriegsgeschichte und Erinnerung“ zeigt nun erstmals auf, wie viele Lager und lagerähnliche Strukturen zwischen 1945 und 1955 in der sowjetischen Besatzungszone (Niederösterreich, Burgenland, Mühlviertel und Teile Wiens) existierten. Das Projekt ist eine Kooperation des LBI für Kriegsfolgenforschung (BIK) in Raabs in Zusammenarbeit mit dem Ilse Arlt Institut für Soziale Inklusionsforschung der FH St. Pölten (IAI) und dem Institut für Geschichte der Universität Graz.

In einem ersten Schritt erfasst das BIK die Anzahl der Lager und welchem Zweck diese dienten. Einerseits lebten in ihnen Besatzungssoldaten, andererseits wurden sie jedoch auch zu Auffanglagern für Vertriebene, Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene und ehemalige KZ-Insassen. Das Projekt beförderte einige Überraschungen zutage, sagt Mag. Dr. Katharina Bergmann-Pfleger, wissenschaftliche Mitarbeiterin des BIK. So ging man vor Projektstart davon aus, dass es in der sowjetischen Besatzungszone keine Lager gegeben hatte, in denen ehemalige Nationalsozialisten interniert wurden: „Heute wissen wir, es waren mindestens sieben – und das allein im Burgenland“, so Bergmann-Pfleger.

Auch die schiere Anzahl der Lager in der sowjetischen Besatzungszone insgesamt überstieg alle Erwartungen: „1945 und 1946 war Österreich geradezu eine Lagerlandschaft“, sagt Bergmann-Pfleger. Man sei auf Orte gestoßen, die auf das Dreifache anwuchsen, als neben den Einwohner:innen etwa sowjetische Soldaten, ehemalige Zwangsarbeiter:innen und aus ihrem Heimatland Vertriebene zu versorgen waren. Etwa 400.000 der drei Millionen vertriebenen Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei suchten in Österreich ein neues Zuhause, Soldaten kehrten von der Front zurück, Ausgebombte brauchten Unterkünfte.

Rund 250 Lager konnten bereits identifiziert werden, in ihnen lebten zwischen 30 und 30.000 Menschen. Um sie zu lokalisieren und zu beziffern, kontaktierten Bergmann-Pfleger und ihre Kolleg:innen über 280 Archive und arbeiteten mit Literatur, Chroniken und Online-Datenbanken. Auch mit der örtlichen Bevölkerung und Zeitzeug:innen in den betreffenden Gemeinden gingen die Forscher:innen in den Austausch. Das war notwendig, denn „die Nachkriegswirren haben kaum offizielle Schriftstücke hinterlassen“, sagt Bergmann-Pfleger. Lager wurden innerhalb kürzester Zeit errichtet, die Nutzung reichte von einem Zeitraum von wenigen Tagen oder Wochen bis zu zehn Jahren. Der Großteil der Lager bestand zwischen 1945 und 1946.

Im Jänner 2022 fiel der Startschuss für die systematische Suche und Einteilung der Lager. Bis Ende 2024 werden zu ausgewählten Beispielen weitere Detailinformationen gesammelt. Dazu zählen etwa soziologische Aspekte, Erinnerungskultur oder Lagerkontinuität. Lager seien zwar in sich geschlossen, so Bergmann-Pfleger, dabei aber trotzdem in die örtliche Umgebung eingebettet. Durch die Kombination der Forschungsfelder zur sowjetischen Besatzungszone sowie zur Zwangsmigration im und nach dem Zweiten Weltkrieg sollen auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der Lager beleuchtet werden. In einem nächsten Schritt ergänzt der Kooperationspartner IAI die historischen Forschungen durch soziologische Fragestellungen: Wie erinnern sich Zeitzeug:innen an ihre Unterbringung in Lagern bzw. lagerähnlichen Einrichtungen? Sind die damaligen Zustände im kollektiven Gedächtnis der Ortschaften verankert? Und wie wurden Lager von der ansässigen Zivilbevölkerung gesehen?

Die Forschungsergebnisse werden unter anderem über eine Webseite mittels georeferenzierter Karte und hinterlegter Datenbank einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit der breitenwirksamen Veröffentlichung soll so das Verständnis für Lagerstrukturen und gesammelte Unterbringungen vertieft werden und es sollen auch Probleme aufgezeigt werden, die es in diesem Zusammenhang im Nachkriegsösterreich gab.

Highlights

Bundeskanzler K. Nehammer, Moderatorin D. Spera, B. Stelzl-Marx, Vizekanzler W. Kogler Foto: BKA

„Gedenken ist kein leeres Ritual“ – Festrede von Barbara Stelzl-Marx im Bundeskanzleramt zur Befreiung 1945

Die Folgen des brutal geführten Zweiten Weltkrieges haben sich „eingebrannt in die Biografien, in die Landschaften“. Das sagte die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx, beim „Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus und an die Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa“ am 8. Mai 2023 im Bundeskanzleramt. Mit ihrer live auf ORF2 übertragenen Fest- und Gedenkrede zum 78. Jahrestag dieser „Zeitenwende“ schloss die Zeithistorikerin an der Universität Graz an die Beiträge von Vizekanzler Werner Kogler und Bundeskanzler Karl Nehammer an.

Konferenz „Need to Know XII & IIHA conference 2023“ erstmals in Graz

Unser Mitarbeiter Mag. phil. Dieter Bacher ist seit 2021 im Organisationskomitee des internationalen Forschungsnetzwerks „Need to Know“, das sich mit den Strukturen und der Arbeit von Geheim- und Nachrichtendiensten im historischen Kontext beschäftigt. Die diesjährige Konferenz widmete sich dem Thema „Intelligence and security on border regions and spheres of influence“. Lokaler Partner in Graz ist das Boltzmann Institut Kriegsfolgenforschung.

BM M. Polaschek und A. Graf-Steiner, Foto: BMBWF elephant and porcelain GmbH/Gerald Mayer-Rohrmoser

Anna Graf-Steiner mit Preisverleihung

Für ihre Dissertation „Die Rolle des neutralen Österreich in der außenpolitischen Strategie der Sowjetunion, 1969-1975“ wurde Dr. Anna Graf-Steiner am 7. Dezember vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) der „Award of Excellence – Staatspreis für die besten Dissertationen“ überreicht.

Ausgewählte Publikationen

LENIN. Die Biografie. Verena Moritz – Hannes Leidinger (Hg.)

Wien/Salzburg: Residenzverlag 2023

Die Steiermärkische Landesbibliothek in der NS-Zeit . Katharina Bergmann-Pfleger

Veröffentlichungen der Steiermärkischen Landesbibliothek 46 / Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Sonderband 28, Steiermärkische Landesbibliothek: Graz 2023

Europäische Werte. Ihre Bedeutung für Freiheit, Sicherheit und Integration. Stefan Karner – Wilhelm Sandrisser (Hg.)

Graz/Wien: Leykam 2023

Das Team

Forschung findet nicht nur allein im Archiv, sondern auch im Austausch mit anderen statt. Ich schätze die Kollegialität und Expertise meiner KollegInnen am Institut und konnte von Beginn an auch von der Einbindung in internationale Forschungsnetzwerke profitieren.

Mag. Dr. Anna Graf-Steiner, MA

Leitung

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx

Leiterin

Doz. Mag. Dr. Peter Ruggenthaler

Stv. Leiter

3
Key-Researcher:innen
6
Postdocs
5
PHD-Student:innen & Dissertant:innen
1
Bachelorstudent:innen
4
Wissenschaftliches Forschungspersonal
2
Administratives Personal
4
Sonstiges Personal

Partner

Karl-Franzens-Universität Graz (AT)
Stadt Graz (AT)
Stand: Mai 2024

Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Wolfram PytaUniversität Stuttgart (DE)
Prof. Mark KramerDavis Center for Russian and Eurasian Studies, Harvard University (US)
Stand: Mai 2024

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