Mit Neulatein an der Schwelle
zu moderner Geschichtsschreibung

LBI für Neulateinische Studien

Die Regierungszeit von Elizabeth I. von England im 17. Jahrhundert inspiriert Wissenschaft und Populärkultur bis heute. Shakespeare schrieb zu dieser Zeit, aber es wurde auch sehr viel in der Gelehrtensprache Latein verfasst. Ein Interview mit James McNamara, gebürtiger Neuseeländer, der die „Annales“ von William Camden am LBI für Neulatein in Innsbruck erforscht. Das Gespräch führte Astrid Kuffner.

Queen Elizabeth I of England. Plate 1 in William Camden, The Historie of the Most Renowned and Victorious Princesse Elizabeth, Late Queene of England, 1630. Line engraving by Francis Delaram after Nicholas Hilliard. Te Papa (RB001301/001a)
Queen Elizabeth I of England. Plate 1 in William Camden, The Historie of the Most Renowned and Victorious Princesse Elizabeth, Late Queene of England, 1630. Line engraving by Francis Delaram after Nicholas Hilliard. Te Papa (RB001301/001a)

Astrid Kuffner: Latein war für viele in der Schule ein Angstfach. Was mochten Sie daran?

James McNamara: Es hat mich wirklich fasziniert, weil die Sprache so alt ist. Man lernt eine ganze Menge über Sprachentwicklung und Grammatik. Für mich war Latein wie ein Schlüssel, mit dem ich mir eine Reihe anderer Dinge erschließen konnte. Es dauert eine Weile, aber wenn man es besser beherrscht, kann man eine Menge faszinierende historische Literatur lesen. In den letzten Jahren habe ich viel zur römischen Geschichtsschreibung gearbeitet.

Was war Ihr Einstieg in Neulatein?

McNamara: Ich habe mich für den römischen Historiker Cornelius Tacitus interessiert. Er ist die Verbindung zu meinem Neulatein-Projekt. William Camden (1551–1623), Historiker der frühen Neuzeit, wollte eine maßgebliche Geschichte schreiben. Er hat sich bei seinen „Annales“ über die Regierungszeit von Elisabeth I. (1558–1603) an antiken Historikern, wie Polybius und Tacitus, orientiert, die damals stark rezipiert wurden. Polybius repräsentiert einen recht nüchtern-analytischen Ansatz. Tacitus steht für einen kritischen Ansatz zur Analyse von Politik.

Was ist der Unterschied zwischen dem Latein von Cäsars „De bello Gallico“ und Neulatein in einfachen Worten?

McNamara: Wie jede Sprache hat sich Latein im Laufe der Zeit verändert – an allen Orten, an denen es verwendet wurde. In der Renaissance gab es eine Rückbesinnung auf alte Autoren, und das reformierte den Gebrauch der Sprache. Es war eine Gelehrtensprache in ganz Europa, die sich zu der Zeit eng an alte Schreibweisen anlehnte. Gleichzeitig wurde Latein auch verwendet, um moderne Technologien und Erkenntnisse zu beschreiben. William Camden begann 1608 seine „Annales“ für ein internationales Publikum zu verfassen. Das gleiche Buch in englischer Sprache hätte nicht dieselbe Resonanz gefunden. Es kamen aber auch neue Ideen zur Geschichtsschreibung auf, die ältere Vorstellungen allmählich verdrängten. Camden verwendet z.B. viele Dokumente, Briefe und Berichte über politische und rechtliche Entscheidungen. Auf der anderen Seite entspricht die Vorstellung, was in eine historische Erzählung gehört, nicht unbedingt dem, was wir heute wissenschaftlich nennen würden. Ich will verstehen, wie Menschen in der frühen Neuzeit klassische Historiker gelesen und ihre Ideen genutzt haben, um ihre Auseinandersetzung mit der Geschichte zu gestalten. Wichtiger Teil meines Lise-Meitner-Projekts (Laufzeit März 2023 bis Februar 2025) ist Zugang zu Quellenmaterial zu erhalten, das seit langer Zeit nicht mehr erforscht wurde.

Wenn Latein in der Renaissance eine Lingua franca für Gelehrte war, wie wurde das genutzt?

McNamara: Wenn man Zugang zu dieser Literatur hat, bekommt man ein besseres Bild von europäischen Netzwerken. Es gab zu dieser Zeit bittere Spaltungen aufgrund von Religionskriegen. Aber viele Gelehrte kommunizierten darüber hinweg. Sie blieben in Kontakt, tauschten Ideen und Bücher aus. Camdens Ideen haben sich durch die Lektüre der Arbeiten von Historikern in anderen Ländern entwickelt. Zu verstehen, wie Ideen reisten, hilft zu verstehen, wie das Werk entstand.

Wie viele Seiten müssen Sie übersetzen? Und was tun Sie, um das Werk für die Geschichtswissenschaft von heute zu erschließen?

McNamara: Die neueste Ausgabe der „Annales“ hat rund 900 Seiten. Ich mache mir in meinen Kopien bereits beim Durchlesen Anmerkungen. In verschiedenen Archiven sind Camdens Entwürfe, Briefe und andere Dokumente. Ich frage mich, welche Quellen er verwendet hat und wie er mit ihnen umgegangen ist. Genauer beleuchten will ich, wie Camden die Königin darstellt und wie er heikle Passagen der Regierungszeit beschreibt. Elizabeth I. verantwortete etwa die Hinrichtung der Mutter des späteren Königs James I., in dessen Regierungszeit Camden das Werk verfasste.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass trotz des Umfangs und der Bedeutung neulateinischer Literatur diese wenig erforscht ist?

McNamara: Dafür gibt es sicher mehrere Gründe. In unserem Zeitalter werden die eigenen Landessprachen für Bildung und Schrift verwendet. Lateinische Texte, damals geschrieben, um viel gelesen zu werden, können so übersehen werden. Das Elisabethanische Zeitalter wird in England mit dem Aufblühen der Künste in englischer Sprache in Verbindung gebracht. Das war auch die Zeit von Shakespeare. Die Epoche fasziniert bis heute und inspiriert eine Vielzahl von Romanen, Filmen und so fort. Dabei wird übersehen, dass Kunst, Wissenschaft und historische Schriften im 17. Jahrhundert auch auf Latein blühten. Neulatein war damals eine moderne Sprache, die sicher zu Unrecht als altmodisch gesehen wird.

Sie haben die ganze Welt durchquert, um von Ihrer Heimat Neuseeland nach Innsbruck zu gelangen. Was macht das Institut zu einem guten Ort für Ihre Forschung?

McNamara: Es gibt hier viel Fachwissen aus verschiedenen Bereichen der neulateinischen Studien, wie man es nicht an vielen Orten findet. Für mich ist es die ideale Umgebung, um mehr über neulateinische Kultur zu lernen.

Mit wem tauschen Sie Ideen aus, teilen Bücher und Quellen?

McNamara: Mein Projekt verbindet Fachgebiete, die oft aufgeteilt sind, wie Klassische Philologie, Geschichte und Englisch. Im Juli 2023 habe ich erste Ergebnisse meiner Arbeit auf einer Konferenz in London vorgestellt und dort viel von Historiker:innen gelernt. Wir nähern uns demselben Material aus unterschiedlichen Richtungen.

Welche Pläne zur Verbreitung der Forschung haben Sie neben dem Buch?

McNamara: Ich möchte auch Podcasts zur Einführung in William Camden und sein Werk produzieren. Längerfristig wäre eine Anthologie mit interessanten Passagen sinnvoll, und das Werk könnte nützliches Lehrmaterial bieten. Ich habe ja an den Universitäten Cambridge und Oxford selbst Latein unterrichtet.

Sie beherrschen auch etwas Māori, Deutsch und Italienisch. Wie lernen Sie Sprachen?

McNamara: Ich fange mit dem strukturierten Ansatz an, den ich beim Latein gelernt habe. Besonders bei den modernen Sprachen geht das Lernen auch gut über die Ohren. Ich höre Musik und wenn ich mitsingen kann, erinnere ich mich besser. Zudem gefällt mir zu erleben, was man durch die Sprachen von ihren jeweiligen Kulturen lernen kann.

Highlights

FW-Projekt für Stefan Zathammer

Dem früheren LBI-Mitarbeiter Dr. Stefan Zathammer wurde im Oktober 2023 vom FWF ein Forschungsprojekt zum Thema “Scanderbegus Latinus: The Figure of Skanderbeg in Early Modern Latin Literature” bewilligt. Wir gratulieren ihm herzlich dazu! Während Skanderbeg heute als Nationalheld Albaniens gilt, bietet sich in neulateinischen Texten der Frühen Neuzeit ein ganz anderes Bild: Dort erscheint er als paneuropäischer Held und als christlicher Kämpfer gegen die Türken. Das FWF-Projekt widmet sich dieser frühen Periode der Skanderbeg-Rezeption, und es fügt sich in das Continuation Concept des LBI Neulatein: Um auch nach dem Ende unseres Institutes die Personalstärke des LBI zu halten, sind Drittmittelprojekte wie dieses hier höchst willkommen.

Buchpräsentation

Am 25. Mai 2023 hat unser LBI in Kufstein eine Buchpräsentation organisiert, bei der die jüngste Publikation von Hermann Niedermayr und Gerhard Frener der Öffentlichkeit präsentiert wurde: Georgius Gemnicensis: Ephemeris sive Diarium peregrinationis transmarinae. Georg von Gaming: Martin Baumgartners Pilgerreise nach Ägypten, auf den Berg Sinai, ins Heilige Land und nach Syrien in den Jahren 1507 und 1508 (Wien, 2022). Mehr als 50 Zuschauer:innen kamen in die Landesmusikschule Kufstein, wo Klaur Reitberger (Kulturreferent) und LBI-Direktor Florian Schaffenrath eine kurze Einführung gaben, ehe Niedermayr und Frener ihr Buch im Detail vorstellten. Die Ephemeris beschreibt eine Reise von Kufstein nach Jerusalem in den Jahren 1507/08 – ein Thema, das auch die heutigen Bewohner:innen von Kufstein faszinieren und fesseln konnte.

Ausgewählte Publikationen

Fachlexikon zum Latein- und Griechischunterricht. Schaffenrath, Florian: Neulateinische Literatur, in: Kipf, Stefan / Schauer, Markus (Hg.)

Tübingen 2023, 568–576

Latin Scientific Literature, 1450–1850. Korenjak, Martin

Oxford 2023

Rethinking the Work Ethic in Premodern Europe. Almási, Gábor / Lizzul, Giorgio (Hg.)

Cham 2023

A Question of Genre: Philip Melanchthon’s Oratorical Debut at Wittenberg University. Walser-Bürgler, Isabella

Renaissance Studies (2023), 1–17

Edition, translation and commentary of the „Codex Fuchsmagen“ (ULBT, Cod. 664). • Kompatscher, Gabriela / Korenjak, Martin / Rufin, Magdalena / Di Dio, Rocco

Innsbruck 2023. Digital publication: https://fuchsmagen.wisski.uibk.ac.at/

Das Team

Ich habe im Oktober 2023 damit begonnen, für das LBI Neulatein als Administrative Assistant zu arbeiten. Trotz einiger administrativer Auflagen und Vorschriften, die zu befolgen sind, habe ich den Eindruck, dass gewisse Dinge, etwa im Bereich von Bücheranschaffung oder Reisen, viel leichter bewerkstelligt werden können, als in unserer Partnerorganisation Universität Innsbruck. Die Atmosphäre, in die ich eingetaucht bin, ist eine von gegenseitiger Wertschätzung getragene, positive Forschungsumgebung. Schade, dass es so schnell zu Ende sein wird!

Administrative Assistant des LBI NeulateinMaximilian Fill

Leitung

Assoz. Prof. Dr. Florian Schaffenrath

Leiter

Univ.-Ass. Mag. Dr. Lav Šubarić

Stv. Leiter

2
Key-Researcher:innen
8
Postdocs
2
PhD-Student:innen/Dissertant:innen
1
Wissenschaftliches Forschungspersonal
2
Administratives Personal

Partner

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (DE)
Österreichische Nationalbibliothek (AT)
Pontificio Comitato di Scienze Storiche (VA)
Universität Innsbruck (AT)
Stand: Mai 2024

Wissenschaftlicher Beirat

Prof. Sarah Knight, PhDUniversity of Leicester (GB)
Univ.-Prof. Dr. Henk J. M. NellenHuygens Institute Den Haag (NL)
Univ.-Prof. Dr. Dirk SacréKatholieke Universiteit Leuven (BE)
Univ.-Prof. Dr. Robert SeidelJohann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (DE)
Univ.-Prof. Dr. Hermann WiegandRuprecht-Karls-Universität Heidelberg (DE
Stand: Mai 2024

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