Ludwig Boltzmann Institute als echtes Renommee

Interview: Eva Stanzl

Forschende, die mit Blick auf die Grundlagen und auf mögliche Anwendungen über Disziplinen und Grenzen hinausdenken: Elvira Welzig und Marisa Radatz, Geschäftsführerinnen der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, über neue Top-Institute in den Gesundheitswissenschaften und die Gründe, warum Österreich mehr klinische Forschung benötigt.

Geschäftsführung
Dipl.-Ing. Dr. Elvira Welzig, MSc.

Es gibt Millionen von Fragestellungen, die uns als Gesellschaft betreffen.

Geschäftsführung
Mag. jur. Marisa Radatz

Public Health, also Forschung zur öffentlichen Gesundheit, ist in Österreich unterrepräsentiert.

Elvira Welzig, Sie sind seit Oktober 2022 Geschäftsführerin der Ludwig Boltzmann Gesellschaft (LBG) – eine Funktion, die Sie mit Marisa Radatz teilen. Ihre beruflichen Stationen umfassten die Christian Doppler Forschungsgesellschaft, das Austrian Institute of Technology und die Förderbank Austria Wirtschaftsservice. Sie sind Doktorin der Technischen Chemie, haben einen Master for Organizational Psychology der Universität London und haben Erfahrung im Forschungsmanagement. Ein perfektes Profil für Ihre neue Aufgabe?

Elvira Welzig: Die Leitung der Ludwig Boltzmann Gesellschaft bündelt alles, was ich bisher gemacht habe, von einer guten technischen Basisausbildung über ein Verständnis, wie Wissenschaft und akademische Systeme funktionieren, bis hin zur Evaluation von Forschungsförderung und der strategischen Ausrichtung von Organisationen. Insofern freue ich mich ganz besonders, dass ich mich hier einbringen kann, und hoffe, dass die Rahmenbedingungen es auch ermöglichen, wir also die entsprechende Finanzierung für neue Institute bekommen.

Sie machen den Job gemeinsam mit Marisa Radatz im System einer geteilten Leitung, das sich bei der LBG seit mehr als zehn Jahren bewährt. Möchten Sie in dieser Doppelspitze eine bestimmte Aufteilung der Aufgabenbereiche verfolgen?

Welzig: Die Tatsache, dass die LBG im Forschungsfinanzierungsgesetz verankert ist, ist ein klares Bekenntnis zu unserer Organisation. Das verleiht uns die Aufbruchsstimmung, das Beste aus den Ludwig Boltzmann Instituten (LBI) herauszuholen und ein Momentum zu schaffen, in dem wir klar vermitteln können, wie wir uns entwickeln wollen und welches Umfeld wir für Top-Institute schaffen müssen.

Marisa Radatz, nach Ihrem Jus-Studium waren Sie Trainee in der Wirtschaftskammer Österreich und gingen 2003 zur Ludwig Boltzmann Gesellschaft, wo Sie ab 2007 als stellvertretende Geschäftsführerin und seit 2014 als zweite Geschäftsführerin der Tochterorganisation LBG GmbH fungieren. Was ändert sich jetzt für Sie?

Marisa Radatz: Die Doppelspitze hat sich bereits in der Vergangenheit bewährt, ist aber nun von der Zusammensetzung her etwas anders. Elvira Welzig hat einen wissenschaftlichen Hintergrund. Ich bin Juristin und habe in den letzten 20 Jahren Erfahrung und organisatorisches Wissen um die LBG aufgebaut, und das ergänzt sich jetzt gut mit einem frischen Input. Wir haben die gemeinsame Verantwortung für alles. Es ist uns wichtig, den Einigungsprozess zu suchen, durch Annäherung mit Argumenten gute Lösungen zu finden und das Gesamte im Blick zu haben.

Die Ludwig Boltzmann Gesellschaft hat sich neu aufgestellt. In einem Entwicklungsplan wurde die „strategische Neuausrichtung auf den Bereich Gesundheitswissenschaften“ beschlossen, wie aus Ihrem Jahresbericht 2021 hervorgeht. Vergangenen Februar ist der erste Call für neue Ludwig Boltzmann Institute angelaufen. Was genau wird gemacht und was erwarten Sie sich von dem neuen Call?

Welzig: Thematisch liegt der Schwerpunkt auf den Gesundheitswissenschaften. Die LBG orientiert sich an den amerikanischen Howard Hughes Medical Institutes. Dieses innovative, impulsgebende Modell wollen wir auch in Österreich umsetzen.

Radatz: Die Howard Hughes Medical Institutes sind räumlich an einer Universität angesiedelt, wo auch die Leitungsperson verankert ist, das Forschungsteam hingegen gehört zum Institut. Damit soll einer Uni die Möglichkeit gegeben werden, neue Themen mit neuen Leuten in einer kritischen Größe aufzusetzen. Der Kern ist eine exzellente wissenschaftliche Person, die auch bereit ist, anwendungsorientierte Themen mitzudenken, da ein Institut auch Partnerorganisationen haben muss.

Zugleich betreiben die LBI Grundlagenforschung. Was genau verstehen Sie unter „Mitdenken von Anwendungen“?

Welzig: Die Fragestellung kommt aus der Forschung selbst, doch am Ende sollen Erkenntnisse in Anwendungen münden. Ein Ludwig Boltzmann Institut hat einen grundlagenwissenschaftlichen Kern in der Person der Leitung und durch akademische Kooperationen, aber auch Partner aus dem Healthcare-Sektor – von Pharmafirmen über Medizintechnik-Unternehmen bis zu Versicherungen –, deren Motivation es ist, Forschungsergebnisse in die Anwendung zu bringen.

Wie passt das neue Konzept zur Idee der Neugier-getriebenen Grundlagenwissenschaft, die frei ihren Fragen nachgeht, quasi ohne Rücksicht auf Anwendungen?

Welzig: Bei von Neugier getriebener Wissenschaft will ich wissen, wie etwas geht. In einem LBI aber geht es darum, die Grundlagen für etwas zu erarbeiten. Es gibt Millionen von Fragestellungen, die uns als Gesellschaft betreffen. Bei uns geht es um ein Bewusstsein für die Idee, wie etwas in die Anwendung kommen kann. Blue Skies Research machen wir nicht. Aber wir starten mit einer Forschungsfrage, nicht mit einem Anwendungsziel.

Radatz: Wir wünschen uns Personen, die offen und über Disziplinen und Grenzen hinaus denken. In welcher Form es dann tatsächlich zu einer Anwendung kommt, ist offen.

Welchen Bedarf erfüllt der Fokus auf die Gesundheitswissenschaften?

Radatz: Public Health, also Forschung zur öffentlichen Gesundheit, ist in Österreich unterrepräsentiert. Zwar ist der Call nicht auf diesen Bereich fokussiert, aber wie die Pandemie gezeigt hat, ist er wichtig. Wir brauchen nicht nur die richtigen Impfstoffe, sondern es muss auch das System so weit aufbereitet sein, dass dieses Angebot angenommen wird.

Welzig: Der Call ist themenoffen. Somit ist ersichtlich, dass wir einen Kern der exzellenten Grundlagenforschung wollen. Doch auch Anwender:innen brauchen exzellente Forschung, um Entscheidungen treffen und Produkte anpassen zu können – ob in Ernährung, Rehabilitation, Epidemiologie oder Infektiologie. Wir wollen alle zwei Jahre zwei Institute vergeben und peilen 1,5 Millionen Euro pro Jahr und Institut an. Davon kann die LBG 1,2 Millionen aus Mitteln des BMBWF zur Verfügung stellen, 300.000 Euro kommen von Partnern. Die Unis haben die Stellung von Host Institutions, das Forschungsteam ist bei uns angestellt.

Radatz: Es können auch aus dem Ausland Leitungspersonen für ein LBI an die Uni geholt werden. Für künftige Calls wäre das attraktiv. Wir wünschen uns eine enge und gute Zusammenarbeit mit den Unis und hoffen, dass durch die Host-Struktur eine gute Basis geschaffen wurde, um ein gut ausgestattetes Institut in Flexibilität und Freiheit betreiben zu können. Die Laufzeit beträgt sieben Jahre, plus drei Jahre im Fall einer Verlängerung. Wir hätten gerne, dass eine Uni sich genauso freut, wenn sie ein LBI bekommt, wie eine Universität in den USA, wenn sie ein Howard Hughes Medical Institute bekommt. Ein LBI soll ein echtes Renommee sein.

Welche Mitsprachemöglichkeiten hat die Universität?

Welzig: Die Antragstellung erfolgt in Abstimmung mit dem Rektorat. Die Uni ist von Anfang an Teil des LBI und trägt die strategischen Entscheidungen in jährlichen Meetings mit, sie kann die Entwicklung des LBI mitgestalten.

Wie oft wird evaluiert?

Welzig: Die erste Evaluierung nach internationalen wissenschaftlichen Standards erfolgt bereits nach drei Jahren. Hier überprüfen wir, ob das Institut inhaltlich gut auf Schiene ist. Nach sechs Jahren evaluieren wir die Option einer Verlängerung.

Die Reform wurde auch kritisiert, da es keine neuen geistes- und kulturwissenschaftlichen Institute geben wird, jedoch gerade diese oftmals im Rampenlicht standen – ich denke etwa an das LBI ArchPro mit seinen spektakulären, medial präsenten archäologischen Prospektionen von Stonehenge. Was geschieht mit diesen Instituten in Zukunft?

Welzig: Einige Institute sind befristet – diese laufen aus. Die drei unbefristeten geisteswissenschaftliche Top-Institute – Kriegsfolgenforschung, Grund- und Menschenrechte und Digital History – bleiben in unserem Portfolio. Unbefristete Institute gibt es im neuen Modell nicht mehr, weil wir immer wieder neue Fragestellungen aufgreifen wollen, die ganz aktuell beantwortet werden sollen.

Radatz: Unsere unbefristeten LBI – ob im geistes- und kulturwissenschaftlichen oder im medizinischen Bereich – werden regelmäßig evaluiert und durch internationale Beiräte wird deren Qualität gesichert. Darüber hinaus wird ihre Relevanz durch die Finanzierung über Partnerorganisationen und Drittmittel deutlich gemacht.

Gibt es Bereiche, in denen man im neuen Konzept nachschärfen könnte?

Welzig: Konzeptuell ist es ein super Wurf. Es gilt, ihn entsprechend auszufüllen. Ob man nachschärft, weiß man erst beim Gehen. Forschung ist nie gleich und wir wollen nicht nur das konzeptuell Neue perfekt umsetzen, sondern auch bestehende Institute an etwas Neues heranführen.

Als zweite Säule neben den Ludwig Boltzmann Instituten soll es künftig „Klinische Forschungsgruppen“ geben – ein in Österreich neues Förderinstrument. Welche Ziele sollen damit erreicht werden?

Welzig: Mit den klinischen Forschungsgruppen bezwecken wir einen massiven Kompetenzaufbau und die Entwicklung von Nachwuchs. Wir haben ein Mentor:innen-System und es gibt Rotationsstellen aus der Klinik. Für jede Gruppe vergeben wir rund 8 Millionen Euro in einem Zeitraum von acht Jahren.

Radatz: Ein Ziel der Rotationsstellen ist, Ärzt:innen mehr Raum für Forschung zu bieten. Auch die Vernetzung innerhalb der Forschungsgruppe ist ein Anliegen. In diesen Teams sind 10 bis 15 Personen beschäftigt. Das ist eine Größenordnung, in der sich auf hohem Niveau Forschung betreiben lässt. Wir würden gerne alle zwei Jahre drei klinische Forschungsprojekte fördern.

Laut einer Eurobarometer-Umfrage haben die Österreicherinnen und Österreicher eine skeptische Haltung zur Wissenschaft. Ein großer Teil hält Wissenschafter für unehrlich und ihre Arbeit für irrelevant. Andere Länder konnten Skepsis durch breite Kommunikationsstrategien für Wissenschaft entgegenwirken. Dazu müssen auch die Forschenden bereit sein, ihre Arbeit einer allgemeinen Bevölkerung verständlich zu machen. Welchen Stellenwert geben Sie der Wissenschaftskommunikation im Career Center?

Radatz: Wissenschaftsminister Martin Polaschek setzt sich gegen Wissenschaftsfeindlichkeit und für Demokratieverständnis ein, ebenso wie verschiedene Institutionen es tun. Die LBG bietet verstärkt Workshops zum Thema Wissenschaftskommunikation für Forschende, in denen die Notwendigkeit und das Werkzeug vermittelt werden. Gerade im Career Center suchen wir Partner mit Kompetenzen in diesem Bereich. Außerdem haben wir Angebote für Forscher:innen zum Thema Leadership. Wir wollen vermitteln, wie man nicht nur Wissenschafter:in, sondern auch Führungspersönlichkeit sein kann, die ein Team weiterbringt, Einzelpersonen fördert und den Nachwuchs nach vorne kommen lässt. Auch das ist ein wichtiger Aspekt, um Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken.

Welzig: In diesem Zusammenhang spielt auch Open Innovation in Science eine Rolle. Patient:innen und ihre Vertretungsgruppen, Angehörige und Stakeholder sollten im Idealfall bereits an einer Forschungsfrage mitarbeiten oder zu relevanten Punkten einbezogen werden, damit Forschung in der Gesellschaft ankommt und die Skepsis abgebaut wird. Open Innovation kann man im Gesundheitsbereich durchaus ausbauen und stärker positionieren, zumal der Forschungsgegenstand Menschen sind.

Die LBG steht seit 2001 unter weiblicher Führung: Damals wurde Elvira Welzigs Vorgängerin Claudia Lingner, die in der LBG sehr viel auf den Weg gebracht hat, Geschäftsführerin. Mit Freya Smolle-Jüttner präsidiert außerdem eine Frau. Wie sehen Sie die Stellung von Frauen in der Forschung?

Welzig: Es ändert sich stetig etwas, aber es ist noch viel zu verbessern. Nehmen wir die Anträge für die klinischen Forschungsgruppen: Unter den Mentor:innen, also erfahrenen Mediziner:innen, sind nur 15 Prozent Frauen. Bei den Antragsteller:innen selbst sind es knapp 40 Prozent, beim Nachwuchs noch mehr, aber selbst dort haben wir noch nicht 50:50.

Was tun Sie, um 50:50 zu erreichen?

Radatz: Wir haben im Vorstand und in der Geschäftsführung ebenso wie in den beiden Jurys – für klinische Forschungsgruppen und für neue Ludwig Boltzmann Institute – Frauen im Vorsitz. Wir achten auf ein gutes, ausgewogenes Verhältnis bei den Scientific Advisory Boards. Darüber hinaus sind wir eine flexible Arbeitgeberin im Hinblick auf Arbeitsausmaß und -aufteilung für Frauen und Männer. Trotzdem gibt es immer noch etwas zu tun. Bei den klinischen Forschungsgruppen muss ein Drittel der (Teilprojekt-)Leitungspersonen weiblich sein. In diesem Fall wirkt also eine Quote unterstützend.

Welzig: Bei der LBI-Ausschreibung sind Gender und Diversity vorausgesetzt. Wir überlegen auch, wie wir diese Änderungen noch weiter unterstützen können. Es ist an der Zeit.

Eva Stanzl ist Wissenschaftsjournalistin, Redakteurin im Feuilleton der „Wiener Zeitung“ und Vorstandsvorsitzende des Klubs der Bildungs- und Wissenschaftsjournalist:innen Österreichs.

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