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Vergessene Befreiungskämpfer
LBI für KriegsfolgenforschungAm 18. und 19. Februar 1945 eroberte eine amerikanische Division spezialisierter Bergsoldaten die „Riva Ridge“ und den Monte Belvedere in Oberitalien. Mit dem Überraschungsangriff gelang es ihnen, die Defensivstellung der Wehrmacht in Norditalien zu durchbrechen und in weiterer Folge Oberitalien von den Nationalsozialisten zu befreien. Das LBI für Kriegsfolgenforschung begibt sich auf eine biografische Spurensuche der 10th Mountain Division. Denn neben den amerikanischen Soldaten kämpften zahlreiche geflüchtete, vertriebene und emigrierte Österreicher in der legendären Gebirgsdivision gegen das Hitlerregime.
1941 wurde das erste Regiment der 10th Mountain Division als einziger permanenter amerikanischer Truppenkörper gegründet, der auf alpine und klimatisch extreme Bedingungen spezialisiert war. Skisport war in Amerika, anders als in Europa, zu dieser Zeit noch exotisch und weitgehend der reichen Ostküstenelite vorbehalten. Jetzt sollte eine ganze Division – an ihrem Höhepunkt mit 14.000 Männern – Skifahren und Klettern lernen. Zahlreiche Skistars waren aus Österreich geflüchtet und bekamen in der US-Army die Möglichkeit, ihre alpine Erfahrung zu teilen. Im 2.800 Meter hoch gelegenen Barackencamp „Camp Hale“ in Colorado lernten tausende junge Männer unter extremen Wetterbedingungen in den Bergen nicht nur zu überleben, sondern auch zu kämpfen. Erst Jahre später sollten sie ihr Können an 114 Gefechtstagen in Italien unter Beweis stellen. Mit dem Überraschungsangriff im Apennin ging die 10th Mountain Division in die Annalen der amerikanischen Militärgeschichte ein: über einen Steilhang kletterten die Gebirgssoldaten in Nacht und Nebel auf die „Riva Ridge“ und überrumpelten erfolgreich die Deutschen, die die alpinistischen Fähigkeiten der amerikanischen Soldaten unterschätzt hatten.
Auch der Salzburger Andreas Henning meldet sich, nach dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg 1941, freiwillig zum Militärdienst. Er war 1938 nach Amerika emigriert und arbeitete als Skilehrer in den Rocky Mountains in Idaho. In Camp Hale wurde er mit seiner 20-jährigen Bergerfahrung für die Ausbildung der „Mountain Soldiers“ im Skifahren und Klettern gebraucht. Der Kampfeinsatz in Italien 1945 brachte ihn kurzfristig nach Europa zurück, wo er für die Bergung eines verwundeten Offiziers mit dem Bronze Star der US-Army ausgezeichnet wurde.
Andreas Hennings – teilweise auch ambivalente – Biografie ist eine von vielen, die Florian Traussnig, Historiker und Wissenschaftskommunikator am LBI für Kriegsfolgenforschung, und sein Projektmitarbeiter Robert Lackner für ein biografisches Online-Projekt zu Exilösterreichern in der 10. US-Gebirgsdivision des Zweiten Weltkriegs erforschen. Entstehen soll dabei eine frei abrufbare Datenbank, die die exilösterreichischen Gebirgssoldaten in Kurzbiografien vorstellt. „Bis jetzt haben wir ungefähr 100 österreichische Soldaten in den militärischen Akten der US-Army ausfindig machen können“, erzählt Florian Traussnig. Anders als die tradierte Erzählung über die Tiroler Skistars der Gebirgsdivision waren rund 70 Prozent der exilösterreichischen Soldaten Juden aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland. Ihre Geschichte sei im Österreich der Nachkriegszeit größtenteils ignoriert worden, so der Historiker weiter.
Die Forscher arbeiten zusätzlich an einem kulturwissenschaftlichen Essay über die berühmte Gebirgsdivision. Denn die mythisierten Tiroler „Bergfexe“ der 10th Mountain Division seien nicht nur aus sportdidaktischer, sondern auch aus militärsoziologischer Perspektive bedeutende Leitfiguren für die US-Army gewesen, so Projektleiter Traussnig. Am 6. Juni 2023 findet in Wien in der Ehemaligen Postsparkasse der Auftakt einer Vermittlungsreihe zum Forschungsprojekt mit einer Ausstellung statt. Die endgültige Präsentation der Forschungsergebnisse und der Datenbank soll im Herbst 2024 erfolgen.
Highlights
Holocaust vor der Haustür: Das Lager Graz-Liebenau
„Nationalsozialismus ist Familiengeschichte“, sagte BIK-Leiterin Barbara Stelzl-Marx bei der Tagung über „75 Jahre Liebenauer Prozess“ und die juristische sowie gedächtnispolitische Aufarbeitung solcher NS-Endphaseverbrechen. Nachkommen verurteilter NS-Täter gaben dabei erstmals Einblick in den familiären Umgang mit diesem „Holocaust vor der Haustür“.
Wieder aktuell: Buch über Österreich und den Kalten Krieg
Plötzlich „liest sich fast jede Zeile wie eine Aktualität“ – das sagen Peter Ruggenthaler und Co-Autor Günter Bischof über ihre rasch als Standardwerk zur Neutralität und sicherheitspolitischen Gratwanderung Österreichs im Kalten Krieg etablierte Studie.
Premiere: Lebensborn-Heim „Wienerwald“
Erstmals in Österreich berichteten vier ehemalige Lebensborn-Kinder des Heimes „Wienerwald“ bei einer öffentlichen Veranstaltung von der Bedeutung dieses SS-Entbindungsheimes in ihren Familiengeschichten. Sie trafen sich – organisiert vom Projektteam – zum Gedanken- sowie Erfahrungsaustausch und besichtigten das Heim in Feichtenbach.
Ausgewählte Publikationen
Österreich und der Kalte Krieg. Ein Balanceakt zwischen Ost und West. Günter Bischof – Peter Ruggenthaler
Germany and the Soviet Union. Peter Ruggenthaler
„Collateral damage“ of occupation? Social and political responses to nonmarital children of Allied soldiers and Austrian women after the Second World War. Lukas Schretter – Barbara Stelzl-Marx
Oral History Projekt „Erinnerungen an das Massaker von Rechnitz“. Endbericht. Barbara Stelzl-Marx – Eva-Maria Streit – Kornel Trojan – Katharina Dolesch – Lena Wallner
Das Team
Leitung
Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx
Leiterin
Doz. Mag. Dr. Peter Ruggenthaler
Stv. Leiter